Dienstag, 30. November 2021

Zuhause

Reizwörter: Hut, Schachtel, magisch, ehrfürchtig, knarzen

Bitte lest auch bei Lore und Regina!


Schwerfällig nahm Emma jede einzelne Stufe der schmalen Stiege, die hinauf auf den Dachboden führte. Dorthin wollte sie.

Als sie die letzte Stufe erreicht hatte, blieb sie stehen und holte tief Luft. Das Atmen fiel ihr in letzter Zeit zunehmend schwerer. Dennoch war es ihr größter Wunsch, noch einmal zum Dachboden hinauf zu gehen.

Vorsichtig, ja fast schon ehrfürchtig, öffnete sie die alte Holztür. Das Gefühl, das Emma dabei überkam, konnte sie weder beschreiben, noch konnte sie es sich erklären. Es war irgendwie seltsam, ja fast schon befremdlich.

‚Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein’, dachte sie. Ihre Tochter Karin hatte es ihr strengstens untersagt, weil sie die Treppe als zu gefährlich ansah. Dennoch hatte sich Emma darüber hinweg gesetzt. Sie wollte – sie musste – noch einmal hierher. Was sie antrieb? Sie wusste es selbst nicht so genau.

Emma betätigte den schwarzen Drehschalter und eine an einem Dachbalken befestigte Lampe beleuchtete den Raum mit fahlem Licht.

Auf einem ausrangierten Kleiderständer hing eine abgewetzte braune Lederjacke. Sie hatte einmal ihrem Mann gehört. Emma konnte und wollte sich nicht von ihr trennen, war es doch das liebste Kleidungsstück, das ihr Mann jemals besessen hatte.

Oben auf einem alten Schrank lag noch immer der dazu passende Hut. Prompt sah sie vor ihrem inneren Auge ihren Mann, der diese Sachen trug. „Ach Friedrich“, seufzte sie, während sie mit einer Hand über einen Ärmel der Jacke strich.

Als sie behutsam die Tür des alten Schrankes öffnete, gab diese ein knarzendes Geräusch von sich. Im Schrank selbst befand sich noch altes Leinen, das sie von ihrer Mutter geschenkt bekommen hatte und das inzwischen schon vergilbt war.

Im linken Teil des Schrankes standen Kartons, in denen Emma ihre Weihnachtsdekoration aufbewahrte. Karin hatte Emmas Haus in der letzten Woche adventlich geschmückt, weshalb einige Kartons leer waren. Doch ein Karton war noch voll mit roten und silbernen Kugeln und mit Lametta.

Sie nahm es an sich und roch daran, so als könne sie über den Geruch vergangene Zeiten wahrnehmen. Als sie die kleine Schachtel mit den roten Kugeln öffnete, war ihr, als begännen die Kugeln zu flüstern: „Weißt du noch, Emma, wie es war, früher, als die Kinder noch klein waren und du mit so viel Liebe den Weihnachtsbaum geschmückt hast?“

Natürlich konnte sie sich erinnern. Wie könnte sie jemals diese Tage vergessen; trug sie doch all die heimeligen Stunden tief in ihrem Herzen. Für immer hatte sie sie dort verwahrt.

In der Ecke, dort wo der alte Schaukelstuhl stand, tanzte der Staub im Schein des Lichtes der antiquarischen Lampe. Emma holte ein Taschentuch aus ihrer Jackentasche und strich damit über den Sitz des Schaukelstuhles, bevor sie sich darauf setzte.

Ausgiebig sah sie sich um. Noch immer wusste sie nicht, was es war, dass sie wie magisch hierher gezogen hatte.

Emma atmete tief durch. Sie wusste, sie hatte eine Entscheidung zu treffen. Vielleicht war das ja auch der Grund, weshalb sie noch einmal hierher wollte: um Abschied zu nehmen.

Wenn sie ehrlich war, wusste sie, dass ihre Tochter recht hatte, wenn sie sagte, dass es nicht gut wäre, wenn Emma noch länger alleine im Haus bliebe. Es stimmte insofern, als es ihr immer schwerer fiel, ihren Alltag alleine zu meistern. Bald wäre sie nicht mehr in der Lage, sich etwas zum Essen zu kochen. Das spürte sie. Ihre Kräfte ließen mehr und mehr nach. Und dann war da ja auch noch das Alleinsein, das oftmals schwer erträglich war.

„Was meinst du, Friedrich“, sprach sie laut in den Raum hinein, „ob ich in ein Altenheim umziehen soll?“

Allein bei der Frage zog sich ihr Magen schon zusammen. Ja, sie wäre dort wieder unter Menschen und mit ganz viel Glück fände sie vielleicht nette Gesprächspartner. Aber was, wenn nicht? Was, wenn sie alleine im Zimmer hocken würde - in einem fremden Zimmer unter fremden Menschen? Dieser Gedanke war schier unerträglich für sie. Aber welche Alternative gab es für sie?

Emma schloss ihre Augen und träumte sich in vergangene Zeiten zurück.

Jetzt, in der Adventszeit, erinnerte sie sich an die roten Wangen ihrer Kinder, wenn sie in der Küche halfen und gemeinsam Spritzgebäck machten. Das war das liebste Gebäck von ihnen allen und Emma musste immer eine große Dose davon verstecken, damit zum Weihnachtsfest überhaupt noch welche übrig blieben.

Es war ihr in dem Augenblick, als läge ihr der Duft von Bratäpfeln, der das ganze Haus erfüllte, in der Nase.

Ja, sie waren wirklich eine glückliche Familie. Nicht reich, aber glücklich.

Nachdem ihre Kinder das Haus verlassen hatten, war es stiller geworden. Doch damals hatte es ja immer noch Friedrich, ihren Mann, gegeben. Aber jetzt war er nicht mehr da und sie wünschte sich tief in ihrem Herzen, bald wieder bei ihm zu sein.

Ohne es zu bemerken, schlief Emma ein.

Einige Zeit später betrat ihre Tochter das Haus. Sie rief nach ihrer Mutter und machte sich große Sorgen, als sie sie nirgendwo entdecken konnte. Irgendwann betrat auch sie die Stiege und ging mit klopfendem Herzen hinauf zum Dachboden. Ihre Mutter, sie würde doch nicht alleine dort hinauf gestiegen sein?

Als sie die Tür öffnete, bemerkte Karin sofort das Licht im Raum und danach sah sie ihre Mutter. Schlafend saß sie in dem alten Schaukelstuhl. Von diesem Bild ging ein so großer Frieden aus, dass Karin lächeln musste und jegliche Sorge und auch jeglicher Unmut gegen ihre Mutter verflogen waren.

Auf Zehenspitzen ging sie zu dem Schaukelstuhl und berührte achtsam den Arm ihrer Mutter.

„Mama“, flüsterte sie, „wach auf, du bist eingeschlafen.“

Erst als sie keine Antwort bekam, bemerkte sie das fahle Gesicht ihrer Mutter, auf dem ein ganz besonderes Lächeln lag. Als ihr bewusst wurde, was geschehen war, liefen Tränen über Karins Wangen. – Ihre Mutter. Sie war in aller Stille nach Hause gegangen.

 

© Martina Pfannenschmidt, 2021


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14 Kommentare:

  1. Liebe Martina,
    ich kann gerade nicht viel dazu sagen, so sehr berührt mich deine Geschichte. Du weißt schon, warum...
    Großartig geschrieben, sehr empathisch, danke!
    Liebe Grüße
    Regina

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    1. Liebe Regina, was für eine anrührende Aussage! Mehr kann man mit (s)einer Geschichte nicht erreichen, als jemanden damit zu berühren. Ich freue mich, wenn mir das gelungen ist. LG Martina

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  2. Was für ein friedliches Hinübergleiten, so still so sanft...
    Das hast du so innig in dieser Geschichte beschrieben liebe Martia.
    Von Herzen wünsche ich dir eine gesegnete und friedvolle Adventszeit, möge das Licht der Liebe für dich scheinen.
    Von ♡ zu ♡

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    1. Oh, jetzt habe ich eine Gänsehaut bekommen, liebe Helga! Hab vielen Dank für deine lichtvollen Worte. Auch dir wünsche ich Licht und Liebe, damit du dich in dieser dunklen Zeit gesegnet fühlst! Liebe Grüße! Martina

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  3. ach liebe Martina...zutiefst berührend las ich eben deine wunderschöne Adventsgeschichte, sie passt soo gut in diese Zeit der Rückschau und der Besinnung auf alte Werte und frühere Erinnerungen...du hast mich mit deinem Stil dies so zu beschreiben zutiefstangerührt und ich danke dir...
    herzlichst -ein Tränchen abwischend angel

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    1. Ganz lieben Dank für deine anrührenden Worte, liebe Angel! Es freut mich sehr, wenn es mir gelungen ist, dich - meine Leser - zu berühren. Das bewegt mich tief im Herzen. Danke dir für deinen Besuch! Ich wünsche dir eine zauberhafte Adventszeit! Martina

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  4. eine anrührende Geschichte
    und man wünscht es sich dass der Engel des Lichtes zu jedem von seinen Eltern so kommt
    mein Vater war gerade wieder 3 Tage im Krankenhaus
    es passiert jetzt öfter
    aber ich hoffe dass er doch noch ein paar schöne Tage erleben darf und dann so friedlich gehen darf
    auch wenn es uns weh tut
    ich wünsche dir noch eine schöne Adventszeit

    Rosi

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    1. Liebe Rosi, wer wünscht es sich nicht, so gehen zu dürfen! Das braucht denke ich viel Vertrauen und das 'Loslassen' von allem, was uns bis dahin lieb und wichtig war. - Auch wir, die noch bleiben 'müssen', dürfen eines Tages loslassen. - Hab Dank für deinen Besuch und auch für den Kommentar! Alles Liebe für dich und deinen Vater! Ich wünsche euch eine lichtvolle Zeit! LG Martina

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  5. Liebe Martina, ich bin ja schon immer von Deinen Geschichten berührt, aber dieses Mal kommt mir auch eine Träne. So schön kann das Ende des Lebens sein.
    Manche wünschen sich diesen Frieden, so im Schlaf hinübergleiten in eine andere Welt.
    Adventlioche , liebe Grüsse zu Dir , herzlichst Klärchen

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    1. Hab Dank, liebes Klärchen, für deinen Besuch und den lieben Kommentar! LG Martina

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  6. Gänsehaut schön, Lore

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  7. Ein gutes und vor allem gesundes, neues Jahr wünsche ich dir liebe Martina.
    Helga

    https://file1.hpage.com/007968/29/bilder/p1140097.jpg

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    1. Dankeschön! Ich wünsche dir ebenfalls ein glückliches neues Jahr! Martina

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