Samstag, 15. August 2020

Die fremde Frau

 

Reizwörter: Baumstumpf, Gartenzaun, erdig, flimmern, eigenartig

Wie immer, so findet ihr zu diesen Wörtern auch diesmal wieder weitere Geschichten bei Regina und Lore!

 

Leise schließe ich die Tür hinter mir, um meine Familie nicht zu wecken. Sie schläft im Urlaub gerne aus, während ich diese stille Zeit früh am Morgen genieße und als sehr wertvoll empfinde.

In der Nacht hat es geregnet, so dass ein erdiger Geruch in der Luft liegt. Ich nehme ein paar tiefe Atemzüge und lasse dabei meinen Blick über das Meer gleiten.

In der noch tief stehenden Sonne flimmert es silbrig und zaubert mir damit ein Lächeln ins Gesicht.

Im nahe gelegenen Fischereihafen wiegen Wellen die buntbemalten Kutter.

Mein Weg führt mich an einem alten Friesenhaus vorbei. Der grün gestrichene Gartenzaun hat schon bessere Zeiten gesehen, doch das tut seinem Charme keinen Abbruch.

Auf einem Baumstumpf dahinter steht ein verwitterter Gartenzwerg, der eine Laterne in seiner Hand hält. Vielleicht soll sie seinem Besitzer die Dunkelheit erhellen.

Nur noch wenige Schritte, dann bin ich direkt am Meer angekommen. Kein Mensch ist hier, nur ein paar Möwen kreisen am Himmel und so kommen und gehen meine Gedanken während meines morgendlichen Spaziergangs, wie die Wellen, die den Strand berühren und sich dann schnell wieder zurückziehen.

In diesem Moment kommt eine Frage in mir hoch, die ich schon seit Kindertagen in mir trage: Warum bin ich eigentlich hier? Gibt es dafür einen Grund? Gibt es eine Aufgabe? MEINE Aufgabe auf diesem Planeten?

Menschliche Aufgaben sind vielfältig, denke ich und sie beginnen wohl für jeden an jedem Morgen mit den alltäglichen Dingen des Lebens, die wir mal mehr, mal weniger gerne erledigen. Aber ist das Abarbeiten irgendwelcher Aufgaben der Grund, weshalb ich hier bin? Und wie wichtig ist mein kleines Leben überhaupt, verglichen mit dem ganzen Universum, dessen Ausmaße ich mir nicht einmal vorstellen kann?

Bin ich, verglichen mit all dem, nicht nur winzig wie ein kleines Staubkorn?

Doch was ist, wenn ich doch nicht bedeutungslos bin? Wenn es einen Grund dafür gibt, dass ich genau jetzt an diesem Ort bin?

„Guten Morgen“, ruft mir unerwartet jemand zu und ich schrecke aus meinen Gedanken hoch.

„Guten Morgen“, erwidere ich verdutzt, während ich eine Hand zum Schutz vor der Sonne über meine Augen lege und eine Frau meines Alters auf mich zukommen sehe. „Ich habe Sie gar nicht kommen hören.“

„Das glaube ich gerne. Sie waren ganz in ihren Gedanken versunken. Außerdem erwartet man zu dieser Zeit ja auch niemanden hier, nicht wahr?“

„Ja, so ist es. Sie haben Recht. Mit dem Einen und mit dem Anderen. Ich wähnte mich wirklich alleine hier und meine Gedanken waren gerade bei meinem Leben und der Frage, weshalb ich eigentlich hier bin. – Also, nicht jetzt hier am Strand, sondern überhaupt, hier auf der Welt. Haben Sie sich das auch schon mal gefragt?“

Ich staune über mich selbst. Weshalb teile ich diese tiefgründige Frage ausgerechnet mit der mir fremden Person?

„Wollen wir uns nicht einen Augenblick setzen?“, fragt sie daraufhin und hockt sich auch schon in den hellen Sand.

Es ist eigenartig, obwohl wir uns gar nicht kennen, scheint eine bemerkenswerte Nähe zwischen uns zu sein. Wortlos setze ich mich neben sie.

„Eine solch philosophische Frage an einem so wundervollen Morgen“, sagt sie lächelnd. „Aber ich kenne das. Es sind genau dieses Alleinsein und diese Stille, die uns zu diesen elementaren Fragen führt, die ich mir ebenso wie Sie schon gestellt habe.“

„Und“, erkundige ich mich erwartungsvoll, „haben Sie für sich eine Antwort darauf gefunden?“

Die Frau schaut auf das Meer hinaus, nimmt anschließend ein wenig von dem weißen Sand in ihre Hand und lässt ihn durch ihre Finger gleiten, während sie mir antwortet: „Ich glaube, ich bin hier, um meinen Mann zu lieben und meine Kinder. Ich glaube, ich bin hier, um ihnen meine Liebe zu geben, für sie da zu sein und ihr Fels in der Brandung zu sein, wenn die Wellen mal wieder hoch schlagen und auch, um während meiner ehrenamtlichen Tätigkeit in einem Hospiz ein wenig Licht in so manche dunkle Stunde meiner Mitmenschen zu bringen.“

Ich schaue die Frau an und sie lächelt zurück. „Das genügt Ihnen nicht, nicht wahr? Sie denken, das kann doch nicht alles sein? Kann man denn da wirklich von einer Aufgabe sprechen?“

Ich fühle mich ertappt und schaue verlegen nach unten.

„Haben Sie schon einmal versucht, ALLES zu lieben? JEDE Situation in Ihrem Leben?“, fragt sie mich und spricht weiter, ohne auf meine Antwort zu warten: „Das ist eine echte Aufgabe, wie ich finde. Es ist gar nicht so einfach, nicht nur die guten Zeiten und glücklichen Momente, zu lieben, sondern sein Licht auch und gerade in dunklen Stunden scheinen zu lassen und zu erkennen, dass auch diese ihren Sinn haben und manche Schätze dahinter verborgen liegen. Diese Schätze zu finden und zu heben, sehe ich als eine meiner Aufgaben, denn das, was der Dunkelheit fehlt, ist doch nur das helle Licht der Liebe. Licht und Liebe in diese Welt zu tragen und sei es auch nur in meine kleine Welt, darin sehe ich meine Aufgabe.“

Wir sitzen eine Weile schweigend nebeneinander und schauen gemeinsam hinaus aufs Meer. Obwohl wir uns fremd sind, hat dieser Moment etwas von Vertrautheit, ja fast schon etwas Magisches.

„Ich glaube“, spricht die Frau wie aus dem Nichts weiter, „es geht nicht darum, eine Spitzenmanagerin zu sein, die viel Geld verdient, aber jeden Abend matt ins Bett fällt. Das mag durchaus ihre Aufgabe sein, aber es ist nicht meine. Das weiß ich ziemlich sicher. Das würde mich einfach nicht glücklich machen und darum geht es doch. Mir reicht es, mein kleines ‚Familienunternehmen‘ zu managen. Das macht mich wirklich rundum glücklich. Diese kleinen Momente zu genießen, wenn mein Kind mich umarmt. Das sind für mich wahre Glücksmomente. Diese vielen kleinen Momente zu sammeln und im Herzen zu bewahren sind für mich wertvoll und man kann sie mit keinem Geld der Welt aufwiegen.

Wissen Sie, ich habe oftmals den Eindruck, dass es in unserer Gesellschaft die Neigung gibt, wertvolle Zeit mit allen möglichen Dingen zu verbringen. In meinen Augen sollte die Zeit, die wir mit den Menschen verbringen, die uns am meisten bedeuten, die Zeit sein, in der wir eben nicht erschöpft und müde sind und kaum noch Energie haben.“

Die Frau, deren Namen ich nicht einmal kenne, springt auf, entledigt sich ihrer Kleidung und läuft ins Meer. Von weitem ruft sie mir noch zu: „Und denken Sie immer daran, was der Grund dafür ist, dass SIE hier sind, das entscheiden SIE selbst und kein anderer!“

 

© Martina Pfannenschmidt, 2020


 Diese Geschichte nimmt an Elkes 'froher und kreativer Linkparty' teil.

Hier geht es zu Elke und ihrem 'Kleinen Blog'. KLICK!



Ein kleiner Hinweis: 

Mit der Nutzung des Kommentar- Formulars erklärst du dich mit der Speicherung und Verarbeitung deiner Daten durch diese Website einverstanden.

10 Kommentare:

  1. Danke, dass du mich auf deinem Spaziergang mitgenommen hast, ich spüre jetzt noch die kühle Brise des Meeres, Und auch dass ich an deinen Gedanken teilnehmen durfte, mit derrn ich in vielen Dingen übereinstimme.
    Wünsche dir ein schönes Wochenende, Lore

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Eine kühle Brise tut wirklich gut in diesen Tagen. - Danke, dass du mich begleitet hast. - Auch dir ein schönes Wochenende! Martina

      Löschen
  2. Liebe Martina,
    ich war auch mit dir am Meer und hatte das Gefühl, dass ich neben euch beiden im Sand saß und zuhörte, was es zu erzählen gab. Ich musste gar nicht eingreifen, einfach nur zustimmend nicken und mich freuen, dass ich dort auch gut hingepasst hätte!
    Wunderbar hast du erzählt, vielen Dank1
    Herzliche Grüße
    Regina

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Nach 3 Tagen Internet-Abstinenz, weil unser Router aufgrund eines Blitzeinschlages in der Nähe defekt war, finde ich deinen lieben Kommentar vor und freue mich sehr darüber. - Wie schön, dass du (heimlich) das Gespräch belauscht hast. ;-) LG Martina

      Löschen
  3. hach ja..
    schön es sich in Gedanken vorzustellen
    ich bin gerne mit dir gekommen
    am Meer zu sein.. das wäre jetzt schön..
    und den Sinn des Lebens?? Einfach zu leben ;)
    liebe Grüße
    Rosi

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Guten Morgen, Rosi! Ich bin auch gerne am Meer und am liebsten dann, wenn dort nicht soviel Trubel herrscht. - Einfach leben! - Ja, so einfach kann es sein! - Hab einen schönen Sonntag und Danke für deinen Besuch und Kommentar! Martina

      Löschen
  4. So viele Philosophen haben sich schon die Zähne ausgebissen an dieser Frage des Seins. Ich habe sie mir auch schon gestellt, gerade am Meer, mit dem Kommen und Gehen der Wellen. So wie die fremde Frau geantwortet hat, so ist es. Die Frage kann man nur für sich beantworten, alles hat einen Sinn und den finden wir in uns.Wunderbar geschrieben, Martina, eine Seinfrage nach dem Sinn!
    Liebste Grüsse, Klärchen

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Liebes Klärchen, vielen Dank für deinen lieben Kommentar. - Ja, es ist eine Frage, an der man sich die Zähne ausbeißt und für die jeder für sich seine Antwort finden muss. - Hab einen schönen Tag und halt dich gut fest, damit du nicht weggeweht wirst. :-) - LG hin zu dir! Martina

      Löschen
  5. Hallo liebe Martina, ich erinnere mich gern an unser Gespräch.:)
    Alles Liebe.
    Helga

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ach, DU warst das??? Das freut mich aber sehr!!!!
      Auch für dich alles Liebe!
      Martina

      Löschen