Sonntag, 28. Dezember 2025

Die Stille nach dem Fest

Karin saß noch immer am Esstisch. Die Hände um die kalte, leere Kaffeetasse gelegt. An diesem Sonntag nach Weihnachten fiel fahles graues Licht ins Esszimmer. Sie sah sich um. Das benutzte Geschirr und Essensreste standen ungeordnet auf dem Tisch, umringt von Brötchenkrümeln, Eierschalen und einem großen roten Fleck, den die Erdbeermarmelade auf der weißen Damast-Tischdecke hinterlassen hatte.

Es war nicht mehr die Unordnung einer eben noch fröhlichen Runde, sondern nur noch die stille Erinnerung an das Lachen, das bis eben noch den Raum erfüllt hatte. In diesem Moment hörte sie nur das laute Ticken der Uhr und – wie von fern -, das leise Surren des Druckers aus dem Büro ihres Mannes.

Karin schloss für einen Augenblick die Augen, um die vergangenen Tage im Geiste zu reflektieren. Ihre beide Kinder waren zu Hause gewesen. Sie hatten Unruhe mitgebracht, aber eben auch diese spezielle Freude der jungen Erwachsenen.

Im Flur hatten sich die Jacken, Schuhe und Taschen gestapelt, aber es hatte auch nach Weihnachten gerochen.

Karin dachte zurück an das gemeinsame Schmücken des Baumes, das Scherzen und Lachen und an die Geschichten, die sie aus ihren Leben erzählt hatten.

Jetzt war ihr, als ob die Zeit für einen Moment stillstand.

Sie erinnerte sich zurück an das Leuchten in den Augen ihrer inzwischen erwachsenen Kinder, als sie alle unter dem Weihnachtsbaum gesessen und Geschenke ausgepackt hatten, die sie vorher mit sehr viel Liebe ausgesucht hatte. Alles hatte sie bis ins Detail organisiert mit dem Wunsch, dass alle ein schönes Fest feiern könnten. Sie wollte ihre Lieben überraschen und das war ihr auch gelungen.

Dann wanderten ihre Gedanken zu den Geschenken, die sie bekommen hatte und die ihr einen leichten Stich versetzt hatten. Wie so oft hatte ihr Mann einen Gutschein einer bekannten Parfümerie besorgt und wie immer hatte er ihn ihr mit den Worten: „Damit du dir auch mal was gönnst!“ überreicht.

Ihre Kinder hatten ihr einen Büchergutschein geschenkt und Pralinen. Alles war so erwartbar für sie gewesen.

Karin schalt sich innerlich. Sie wollte nicht undankbar scheinen. Sie sollte glücklich sein über ihre intakte Familie – und das war sie auch. Aber tief in ihr nagte eine unerfüllte Sehnsucht nach etwas anderem. Etwas, das ihren grauen Alltag unterbrach, etwas, das ihr zeigte, dass sie wertvoll war.

Jetzt, an diesem Sonntag, waren die Kinder nach dem Frühstück aufgebrochen. Zurück in ihre Studentenwohnungen, um den Abend mit Freunden zu verbringen. Ihr Mann hatte sich nach dem Frühstück in sein Büro zurückgezogen, wie so oft, wenn das Haus ruhiger wurde. Und so blieb sie zurück. Allein am langen Tisch, zwischen den Spuren des Familienlebens.

Karin stand auf, nahm seufzend die Teller und Tassen und brachte sie in die Küche. Das vertraute Klappern des Geschirrs, das Plätschern des Wassers holten sie nur bedingt aus ihren Gedanken.

Später ging sie die Stufen hinauf in die früheren Kinderzimmer. Sie zog die Betten ab, ordnete zerknüllte Schlafanzüge und zupfte ein vergessenes Buch unter einem Kissen hervor. Ihr Blick blieb an den leeren Regalen hängen, wanderte weiter zu den Postern und Fotos, die noch von früher erzählten. In jedem Raum lag eine andere Stille, die noch schwerer wog als die Leere, die sie in der Küche verspürt hatte.

Karin wusste, was morgen zu tun war. Der Kühlschrank war fast leer, die Vorratskammer wie ausgeplündert. Gedanklich schrieb sie bereits eine Einkaufsliste, während sie die Betten frisch bezog. Der Alltag hatte sie zurück mit all seinen Forderungen und doch so nüchtern nach den erfüllten Tagen des Festes.

Beim Blick aus dem Fenster, in den grauen Nachmittag, stellte sie sich die alte Frage: War das schon alles? Wann hatte das Leben eigentlich aufgehört, sie zu überraschen? Wann war sie so abgestumpft geworden, dass die Tage einander glichen wie ein Dominostein dem anderen?

Karin fühlte sich wie in Watte gepackt. Zwar sicher, aber auch seltsam taub. Die Feste, die Routinen, die stets gleichen Abläufe – war sie in ihnen verloren gegangen oder gar gefangen? Sie spürte eine leise, aber dringende Sehnsucht nach Veränderung, nach einem Licht, einem Hoffnungsschimmer.

Draußen begann es zu dämmern. Sie betrachtete die Straße, die wie sie selbst leer und starr vor ihr lag. Und während sie so dastand, fasste sie einen Entschluss – keinen großen, alles Umwerfenden, sondern einen leisen, aber klaren: Im neuen Jahr, so versprach sie sich, wollte sie nicht länger auf Überraschungen warten, sondern selbst welche schaffen. Vielleicht einen Tanzkurs beginnen, einen alten Traum wieder aus der Schublade holen, oder … sie lächelte leise … vielleicht doch den Schritt zurück ins Berufsleben wagen?

Morgen würde sie einkaufen gehen. Aber heute, an diesem stillen Sonntag, begann für sie etwas Neues – und sei es nur der Gedanke daran, dass Veränderungen möglich sind, wenn man sie wagt.

 

© Martina Pfannenschmidt, 2025

 

 


2 Kommentare:

  1. Liebe Martina, ich kann Karin so gut verstehen und nachempfinden, wie es ihr heute geht und ich werde mir ein Beispiel nehmen und auch einen alten Traum aus der Schublade holen. Mal sehen, für welchen der vielen ich mich entscheiden werde. Ich lasse es dich wissen, wenn es soweit ist. Danke für den Gedankenstuppser in deiner schönen, ein wenig melancholischen Geschichte.
    Liebe Grüße und einen schönen Sonntag dir
    Regina

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    1. Guten Morgen, liebe Regina! Na, du warst heute ja schon früh zu Besuch. Ich danke dir sehr - ja, sie ist ein wenig melancholisch, aber so fühlt es sich ja oft für uns Mütter nach trubeligen und erfüllten Tagen an. Und so ist es mit den Geschichten, wie im wahren Leben: mal sind sie fröhlich, mal nachdenklich, mal melancholisch. - Genieß du auch den Sonntag! Martina

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