Montag, 29. Dezember 2025

Zwei Tage vor Silvester

Es war der 29. Dezember. Zwei Tage vor Silvester.

Manuela schälte sich recht früh aus dem Bett. Sie wusste, dass noch so viel zu erledigen war, bevor ihre Freunde zum jährlichen Raclette-Essen am Silvesterabend bei ihnen hereinschneien würden.

Bevor sie ins Bad ging, öffnete sie langsam die Wohnzimmertür und blieb wie angewurzelt stehen. Das reinste Chaos empfing sie dort. Der Teppich lag schief, die Sessel waren verrückt, auf dem Couchtisch standen noch die Gläser vom Vorabend, die Kissen lagen durcheinandergewürfelt herum und die Krümel von Chips und Keksen waren überall verstreut. Doch das schlimmste war der Tannenbaum. Er wirkte wahrlich zerrupft und seine Äste hingen etwas traurig herab. Die einst liebevoll aufgehängten Schokoladenanhänger und Zuckerstangen waren fast alle verschwunden. Die Enkelkinder hatten sie genascht. Heimlich und kichernd, wie sie bemerkt hatte.

Manuela seufzte. Die Last der Weihnachtstage lag wie ein schwerer Mantel auf ihren Schultern und eine bleierne Müdigkeit breitete sich in ihr aus.

Die vergangenen Tage waren voller Leben und Lachen gewesen, weil die ganze Familie zusammengekommen war: ihre Kinder und Enkelkinder, ihre Eltern und Schwager und Schwägerin.

Sie hatte gekocht, gebacken, serviert – immer bemüht, dass niemand zu kurz kam und dass sich jeder herzlich willkommen und wohl fühlte. Zwischendurch hatte sie Streit geschlichtet, kleine Missverständnisse aus der Welt geräumt und versucht, mitten im Chaos eine harmonische Stimmung zu bewahren. Nun war sie erschöpft, aber auch irgendwie erleichtert. Jetzt, wo alle abgereist waren, lag die Stille wie ein sanftes Tuch über allem.

Langsam ließ sie sich in einen Sessel sinken, der dabei leise knarzte. Sie war so müde und ihre Augenlider waren so schwer, dass sie, während draußen der Wind leise um die Hausecke pfiff, wieder einschlief - umgeben von all dem Durcheinander, das das Fest hinterlassen hatte.

Mitten in die Stille hinein begannen plötzlich die Dinge im Wohnzimmer zu flüstern. Die Kerzen auf dem Tisch, die Christbaumkugeln und der Tannenbaum.

„Schaut euch die Frau an“, murmelte eine silberne Kugel, „so müde und erschöpft. Ist das der Sinn von Weihnachten – dass die Menschen so ausgelaugt sind?“

Der Tannenbaum seufzte. „Mir wurden meine Wurzeln genommen“, stöhnte er auf, „nun stehe ich hier, geschmückt zwar und beim Fest bestaunt, aber jetzt – jetzt fühle ich mich nutzlos. Wofür das alles frage ich mich?“

Die Kerzen flackerten sanft und schienen nachzudenken. Dann sprach die älteste Kerze mit ruhiger Stimme: „Wisst ihr, ich glaube, dass wir alle zusammen für die Menschen Weihnachten bedeuten. Schaut, sie bringen uns in ihr Haus, schmücken uns, zünden uns Kerzen an, weil wir Licht und Wärme schenken. Und eines ist ebenso gewiss: Weihnachten ist viel mehr als nur Geschenke und festliches Essen.“

Die Kugel rollte ein kleines Stückchen näher. „Aber Weihnachten ist doch das Fest der Liebe. Warum ist die Frau dann so erschöpft?“, fragte sie.

Die Kerze lächelte und erwiderte weise: „Weil Liebe manchmal anstrengend ist und weil Familie bedeutet, einander zu helfen, zuzuhören, auch mal zu streiten und sich wieder zu versöhnen. Und schaut, der Tannenbaum ist ein Symbol: Er steht mitten in der Wohnung, grün und lebendig erinnert er alle an Hoffnung und Beständigkeit. Und ihr Kugeln bringt Glanz, Freude und ein wenig Zauber mit. Und wir Kerzen – wir spenden Licht in der Dunkelheit.“

„Ich glaube“, sprach der Stern, der hoch oben auf der Spitze des Tannenbaumes thronte, „dass der wahre Sinn von Weihnachten nicht in der Perfektion liegt, sondern im Miteinander und in der Dankbarkeit für jeden Moment. Sei er nun laut oder leise, fröhlich oder anstrengend.“

Stille kehrte in den Raum zurück, als Manuela erwachte. Irgendetwas musste geschehen sein. Sie fühlte sich plötzlich so anders. Ihr Herz quoll über vor Wärme und Liebe. Selbst der Tannenbaum wirkte in diesem Moment ganz anders auf sie. Sie sah ihn nicht mehr als zerrupftes Relikt eines turbulenten Festes, sondern als Zeichen dafür, dass Liebe manchmal chaotisch, aber immer lebendig ist. Sie lächelte, erhob sich und zündete die Kerzen am Baum an – ganz für sich allein.

Nein, das Wohnzimmer war in diesem Zustand nicht perfekt, aber es war voller liebevoller Erinnerungen an ein ganz besonderes Fest.

Und während die Kerzen leise flackerten und der Tannenbaum still im Licht glänzte, spürte Manuela: Weihnachten ist nicht das Ende der Kräfte, sondern der Anfang von Hoffnung, Gemeinschaft und Dankbarkeit – auch zwei Tage vor Silvester.

© Martina Pfannenschmidt, 2025

 


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