Karin saß noch immer am Esstisch. Die Hände um die kalte, leere Kaffeetasse gelegt. An diesem Sonntag nach Weihnachten fiel fahles graues Licht ins Esszimmer. Sie sah sich um. Das benutzte Geschirr und Essensreste standen ungeordnet auf dem Tisch, umringt von Brötchenkrümeln, Eierschalen und einem großen roten Fleck, den die Erdbeermarmelade auf der weißen Damast-Tischdecke hinterlassen hatte.
Es war nicht mehr
die Unordnung einer eben noch fröhlichen Runde, sondern nur noch die stille
Erinnerung an das Lachen, das bis eben noch den Raum erfüllt hatte. In diesem
Moment hörte sie nur das laute Ticken der Uhr und – wie von fern -, das leise
Surren des Druckers aus dem Büro ihres Mannes.
Karin schloss für
einen Augenblick die Augen, um die vergangenen Tage im Geiste zu reflektieren.
Ihre beide Kinder waren zu Hause gewesen. Sie hatten Unruhe mitgebracht, aber
eben auch diese spezielle Freude der jungen Erwachsenen.
Im Flur hatten
sich die Jacken, Schuhe und Taschen gestapelt, aber es hatte auch nach
Weihnachten gerochen.
Karin dachte
zurück an das gemeinsame Schmücken des Baumes, das Scherzen und Lachen und an
die Geschichten, die sie aus ihren Leben erzählt hatten.
Jetzt war ihr, als
ob die Zeit für einen Moment stillstand.
Sie erinnerte sich
zurück an das Leuchten in den Augen ihrer inzwischen erwachsenen Kinder, als
sie alle unter dem Weihnachtsbaum gesessen und Geschenke ausgepackt hatten, die
sie vorher mit sehr viel Liebe ausgesucht hatte. Alles hatte sie bis ins Detail
organisiert mit dem Wunsch, dass alle ein schönes Fest feiern könnten. Sie
wollte ihre Lieben überraschen und das war ihr auch gelungen.
Dann wanderten
ihre Gedanken zu den Geschenken, die sie bekommen hatte und die ihr einen
leichten Stich versetzt hatten. Wie so oft hatte ihr Mann einen Gutschein einer
bekannten Parfümerie besorgt und wie immer hatte er ihn ihr mit den Worten:
„Damit du dir auch mal was gönnst!“ überreicht.
Ihre Kinder hatten
ihr einen Büchergutschein geschenkt und Pralinen. Alles war so erwartbar für
sie gewesen.
Karin schalt sich
innerlich. Sie wollte nicht undankbar scheinen. Sie sollte glücklich sein über
ihre intakte Familie – und das war sie auch. Aber tief in ihr nagte eine
unerfüllte Sehnsucht nach etwas anderem. Etwas, das ihren grauen Alltag
unterbrach, etwas, das ihr zeigte, dass sie wertvoll war.
Jetzt, an diesem
Sonntag, waren die Kinder nach dem Frühstück aufgebrochen. Zurück in ihre
Studentenwohnungen, um den Abend mit Freunden zu verbringen. Ihr Mann hatte
sich nach dem Frühstück in sein Büro zurückgezogen, wie so oft, wenn das Haus
ruhiger wurde. Und so blieb sie zurück. Allein am langen Tisch, zwischen den
Spuren des Familienlebens.
Karin stand auf, nahm
seufzend die Teller und Tassen und brachte sie in die Küche. Das vertraute
Klappern des Geschirrs, das Plätschern des Wassers holten sie nur bedingt aus
ihren Gedanken.
Später ging sie
die Stufen hinauf in die früheren Kinderzimmer. Sie zog die Betten ab, ordnete
zerknüllte Schlafanzüge und zupfte ein vergessenes Buch unter einem Kissen
hervor. Ihr Blick blieb an den leeren Regalen hängen, wanderte weiter zu den
Postern und Fotos, die noch von früher erzählten. In jedem Raum lag eine andere
Stille, die noch schwerer wog als die Leere, die sie in der Küche verspürt
hatte.
Karin wusste, was
morgen zu tun war. Der Kühlschrank war fast leer, die Vorratskammer wie
ausgeplündert. Gedanklich schrieb sie bereits eine Einkaufsliste, während sie
die Betten frisch bezog. Der Alltag hatte sie zurück mit all seinen Forderungen
und doch so nüchtern nach den erfüllten Tagen des Festes.
Beim Blick aus dem
Fenster, in den grauen Nachmittag, stellte sie sich die alte Frage: War das
schon alles? Wann hatte das Leben eigentlich aufgehört, sie zu überraschen?
Wann war sie so abgestumpft geworden, dass die Tage einander glichen wie ein
Dominostein dem anderen?
Karin fühlte sich
wie in Watte gepackt. Zwar sicher, aber auch seltsam taub. Die Feste, die
Routinen, die stets gleichen Abläufe – war sie in ihnen verloren gegangen oder
gar gefangen? Sie spürte eine leise, aber dringende Sehnsucht nach Veränderung,
nach einem Licht, einem Hoffnungsschimmer.
Draußen begann es
zu dämmern. Sie betrachtete die Straße, die wie sie selbst leer und starr vor
ihr lag. Und während sie so dastand, fasste sie einen Entschluss – keinen
großen, alles Umwerfenden, sondern einen leisen, aber klaren: Im neuen Jahr, so
versprach sie sich, wollte sie nicht länger auf Überraschungen warten, sondern
selbst welche schaffen. Vielleicht einen Tanzkurs beginnen, einen alten Traum
wieder aus der Schublade holen, oder … sie lächelte leise … vielleicht doch den
Schritt zurück ins Berufsleben wagen?
Morgen würde sie
einkaufen gehen. Aber heute, an diesem stillen Sonntag, begann für sie etwas
Neues – und sei es nur der Gedanke daran, dass Veränderungen möglich sind, wenn
man sie wagt.
© Martina
Pfannenschmidt, 2025
Liebe Martina, ich kann Karin so gut verstehen und nachempfinden, wie es ihr heute geht und ich werde mir ein Beispiel nehmen und auch einen alten Traum aus der Schublade holen. Mal sehen, für welchen der vielen ich mich entscheiden werde. Ich lasse es dich wissen, wenn es soweit ist. Danke für den Gedankenstuppser in deiner schönen, ein wenig melancholischen Geschichte.
AntwortenLöschenLiebe Grüße und einen schönen Sonntag dir
Regina
Guten Morgen, liebe Regina! Na, du warst heute ja schon früh zu Besuch. Ich danke dir sehr - ja, sie ist ein wenig melancholisch, aber so fühlt es sich ja oft für uns Mütter nach trubeligen und erfüllten Tagen an. Und so ist es mit den Geschichten, wie im wahren Leben: mal sind sie fröhlich, mal nachdenklich, mal melancholisch. - Genieß du auch den Sonntag! Martina
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