Donnerstag, 27. November 2025

Das Interview

Oma Emma hat es sich an diesem kalten Novembertag in ihrem Lehnstuhl gemütlich gemacht. Vor ihr auf dem Tisch brennt eine Kerze und über allem liegt der Duft frisch gebackener Plätzchen.

Laura, ihre Enkeltochter, sitzt etwas angespannt auf einem Sessel neben ihr.

„Oma, pass auf“, sagt sie, „ich mache jetzt eine Aufnahme von dem, was du auf meine Fragen antwortest. Das heißt, ich mache jetzt ein richtiges Interview mit dir. Ich brauche das für die Schule.“

„Okay“, sagt Oma, „dann schieß mal los.“

„Oma“, beginnt Laura etwas nervös, „erzähl mir bitte von früher. Wie war die Adventszeit für dich, als du noch klein warst?“

Omas Gesicht verklärt sich ein wenig, als sie antwortet: „Weißt du, Laura, die Adventszeit war damals ganz anders als heute. Ich erinnere mich an einen Advent, als draußen der Wind eisig durch die dunklen Straßen pfiff und wir die Fenster verdunkeln mussten, weil Krieg war. Es gab damals kaum Licht, keine bunten Schaufenster und oft auch wenig zu essen.“

„Hattest du manchmal Angst?“, möchte die Enkelin wissen.

„Oh ja, sehr oft sogar“, erwidert Oma ehrlich, „aber weißt du, gerade in dieser Zeit war die Hoffnung besonders wichtig. Wir saßen zusammen und gaben uns gegenseitig Halt. Meine Mutter erzählte uns Geschichten oder wir sangen leise weihnachtliche Lieder. Ich erinnere mich noch, dass mein größter Wunsch damals gar kein Spielzeug war. Mein größter Wunsch war es, dass mein Vater heil und gesund aus dem Krieg heimkommt.“

Laura kann sich in diese Situation gar nicht hineinversetzen. Heute denken die Kinder nur an Geschenke. Deshalb möchte sie wissen, ob Oma damals auch Geschenke bekommen hat.

„Ja, es gab auch Geschenke. Aber nur sehr wenige. Weißt du, Laura, wie ich eben schon sagte, war die Hoffnung in dieser Zeit wichtiger, als irgendwelche Geschenke. Aber ich weiß noch wie heute, dass ich eine große Orange geschenkt bekam. Das war etwas ganz Besonderes für mich. Meine Mutter hatte sie auf dem Schwarzmarkt getauscht, was eigentlich verboten war. Ich habe diese Orange wie einen Schatz gehütet. Diesen Duft, die Farbe und das Gefühl, sie in den Händen zu halten, habe ich mir bis heute bewahrt.“

Laura kann es gar nicht glauben. „Nur eine Orange? War das alles?“, fragt sie ungläubig. „Hast du keine richtigen Geschenke bekommen?“

Emma schmunzelt. Zum einen, weil sie weiß, dass ihre Enkelin ihr damaliges Gefühl nicht nachvollziehen kann, aber auch, weil sie sich an die Geschenke zurückerinnert. „Mein Großvater hat mir damals ein kleines Pferd aus Holz geschnitzt“, erzählt sie. „Es war schlicht und sicherlich in deinen Augen auch nicht schön, aber für mich war es das. Ich habe es geliebt. Und meine Mutter hatte aus Wollresten einen bunten Schal für mich gestrickt. Diese Dinge waren voller Liebe, und sie haben mir gezeigt, dass das Wertvollste nicht gekauft werden kann.“

„Als der Krieg dann vorbei war“, fragt Laura, „was hat sich da verändert? Wie war es dann in der Advents- und Weihnachtszeit?“

Dann wurde alles langsam heller. Es gab wieder mehr zu essen. Mandarinen und Schokolade waren keine Träume mehr. Die Adventszeit wurde bunter, lauter, fröhlicher. Aber weißt du, die Freude über das Zusammensein blieb dennoch das Schönste für mich – bis heute. Und später, als dein Papa geboren wurde und ich selbst Mutter war, wollte ich ihm all das schenken, was ich entbehrt hatte. Wir haben zusammen einen Adventskalender gebastelt, Plätzchen gebacken, das Haus geschmückt und zu Weihnachten als Familie ein festliches Mahl genossen. Jeden Abend habe ich ihm eine Geschichte vorgelesen, und seine Augen haben dabei gestrahlt.“

„Heute gibt es so viele Spielsachen für die Kinder. Wie findest du das?“, will Laura dann noch wissen.

„Weißt du, erwidert Emma daraufhin, „ich freue mich von Herzen darüber, dass es euch heutzutage an nichts fehlt. Aber manchmal frage ich mich, ob wir nicht das Wesentliche aus den Augen verlieren. Früher war die Freude am Beisammensein das Größte. Wir haben gemeinsam gebastelt, gebacken und gesungen. Diese kleinen Rituale – das erste Licht am Adventskranz, das Warten auf das Christkind – das hat uns verbunden. Und das fehlt heute in meinen Augen.“

„Was ist für dich das Wichtigste im Advent, Oma?“

„Das kann ich leicht beantworten. Die Familie und die Zeit, die wir miteinander verbringen ist für mich das Wichtigste im Advent. Aber ebenso stille Momente, Zeit zum Nachdenken und Innehalten. Und wenn ich mich frage, was mich wirklich glücklich macht, ist die Antwort, dass es die Momente sind, in denen wir füreinander da sind, in denen wir einander zuhören, gemeinsam lachen oder auch mal traurig sind. Ich finde, die Adventszeit zeigt uns, was im Leben wirklich zählt.

„Und heute? Wie ist die Adventszeit heute für dich?“

Oma Emma blickt versonnen aus dem Fenster: „Heute sehe ich, wie viel sich verändert hat. Wie wir eben schon sagten, sind die Wünsche der Kinder immer größer geworden, manchmal zu groß. Es gibt so viel Spielzeug, aber oft fehlt die Zeit, gemeinsam zur Ruhe zu kommen. Doch wenn ich mit euch Plätzchen backe oder eine Kerze anzünde, spüre ich, dass das Wesentliche bleibt: die Vorfreude, das Miteinander, die kleinen Momente des Glücks.“

Laura wirkt nachdenklich. „Auch heute gibt es noch Krieg in der Welt“, sagt sie betroffen. „Denkst du manchmal an die Kinder, denen es nicht so gut geht?“

„Oh, ja! Sehr oft sogar. Weißt du, immer wenn ich die Nachrichten sehe, denke ich an die Kinder, die heute noch Angst haben müssen, so wie ich damals. Die sich Frieden wünschen, Geborgenheit, ein warmes Zuhause. Ich glaube, die Sehnsucht nach Frieden ist etwas, das uns alle verbindet – damals wie heute.“

„Eine letzte Frage habe ich noch: Was wünscht du dir für die Zukunft?“

Emma greift nach der Hand ihrer Enkelin, als sie antwortet: „Ich wünsche mir, dass kein Kind den Advent und Weihnachten mit Krieg verbinden muss und dass wir nie vergessen, wie wertvoll Frieden ist. Und dass wir immer wieder innehalten, um zu spüren, was uns wirklich glücklich macht.“

Danke, Oma, für dieses Interview. Ich glaube, ich verstehe jetzt besser, warum der Advent so besonders ist.“

Das freut mich von Herzen - und wenn ich mir etwas wünschen darf, ist es, dass das Licht der Hoffnung immer in deinem Herzen leuchten möge – und in allen Kinderherzen, überall auf der Welt.“

© Martina Pfannenschmidt, 2025


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen