„Na, Frau Baumann, hat es
Ihnen geschmeckt?“
Lisa nickte. Schließlich
wollte sie nicht unhöflich sein.
„Soll ich Sie wieder in den
Wintergarten bringen?“
Wieder nickte Lisa.
„So, von hier aus haben Sie
einen schönen Blick in den Garten. Schauen Sie nur“, bat Tanja, die freundliche
Altenpflegerin, und deutete mit ihrem rechten Zeigefinger Richtung Blumenbeet,
„die Narzissen bahnen sich schon den Weg ans Licht. Bald wird es draußen wärmer
sein. Dann kann ich Sie direkt in den Garten und in die Sonne schieben.“
Lisa wollte nicht ein
weiteres Mal nicken, weshalb sie ein kurzes „Dankeschön“ über ihre Lippen
brachte.
„Sehr gerne, Frau Baumann.
Und wenn was ist, dann melden Sie sich, ja.“
„Ja!“
Lisa Baumann war erst seit
ein paar Tagen in diesem Alten- und Pflegeheim und sie musste sich hier und da
noch eingewöhnen.
Sie freute sich wirklich über
jede kleine Zuwendung durch die Pflegerinnen und sie wusste, dass diese nicht
viel Zeit neben all ihrer Arbeit für ein Schwätzchen übrig haben, doch schön
wäre es schon, sich ein wenig mehr austauschen zu können.
Die Frauen, mit denen sie gemeinsam
ihre Speisen einnahm, waren nicht sonderlich gesprächig. Das war echt schade,
da Lisa durchaus ein kommunikativer Mensch war.
Ungewollt fiel Lisas Blick
auf ihre eigenen Hände.
„Was habt ihr alles schon gemacht,
in eurem Leben“, dachte sie in diesem Moment.
Wie selten man sich seinen
Händen widmet, ging es ihr dabei durch den Kopf. Ständig sind sie im Einsatz
und wir danken ihnen nicht einmal dafür.
„Meine Güte, ihr seht alt und
schrumpelig aus“, flüsterte sie leise. Danach sah sie sich vorsichtig um.
Hoffentlich bemerkte niemand ihr Selbstgespräch.
Ihr Blick fiel auf ihren
Ehering, den sie in diesem Moment an ihrem Ringfinger drehte.
Es war schon viel Zeit
vergangen, seit ihr inzwischen verstorbener Mann ihn ihr bei ihrer Trauung
angesteckt hatte. Sie trug ihn seither täglich, legte ihn eigentlich niemals
ab.
Lisa rieb ihre Hände aneinander.
Wie so oft waren sie eiskalt.
„Sie sind halt schlecht
durchblutet“, hatte ihr Arzt gesagt, „genau wie Ihre Füße!“
Ja, auch die waren ständig
kalt. Und jetzt, wo sie nicht mehr so gut gehen konnte, fühlten sie sich
manchmal wie Eisklötze an.
Ihre Füße und Beine. Viele
Wege war sie mit ihnen gegangen. Doch jetzt durften sie ausruhen. Und auch ihre
Hände ruhten die meiste Zeit des Tages. Früher war das alles ganz anders gewesen.
Sie hatte, wie viele andere
Frauen auch, mit ihren Händen so manche Hausarbeit wie putzen, waschen, bügeln
und kochen verrichtet und so manches Mal hatte sie sich beim Schnippeln von
Gemüse oder beim Kartoffeln schälen in den Finger geschnitten oder sich bei der
Gartenarbeit die Hände schmutzig gemacht.
Doch das war jetzt alles
vorbei. - Das war alles vorbei.
Lisa faltete ihre Hände und
legte sie in ihrem Schoß ab.
Wie oft schon hatte sie ihre
Hände zum Gebet gefaltet. Doch dann kam ein Gedanke in ihr hoch, der sie noch
heute erschreckte und für den sie sich auch jetzt noch schämte. Ihr war einmal
die Hand ausgerutscht. So sagt man wohl. Sie hatte ihrem Buben eine schallende Ohrfeige
gegeben.
Ganz tief in ihr tat das
immer noch weh. So etwas durfte einfach nicht passieren. Hände sollten streicheln
und nicht schlagen. Und doch. Es war geschehen und nicht mehr zu ändern.
Hatte sie sich dafür
eigentlich jemals bei ihrem Sohn entschuldigt? Das würde sie nachholen, wenn er
sie das nächste Mal besuchen käme.
Doch mit den Händen kann man
nicht nur arbeiten, ging es Lisa durch den Kopf. Sie können noch viel mehr. Mit
ihnen kann man drohen oder klatschen und letztendlich können sie sogar reden,
wenn man sie zur Gebärdensprache nutzt.
Lisa wurde aus ihren Gedanken
gerissen, als Tanja, die Altenpflegerin, den Wintergarten betrat und sie
ansprach: „Schauen Sie, Frau Baumann, ich bringe Ihnen Herrn Schuster. Er
verbringt seine Zeit auch sehr gerne hier im Wintergarten. Ich weiß gar nicht,
ob sie zwei sich schon kennengelernt haben.“
Helmut Schuster machte eine
leichte Verbeugung, so gut es ihm in seinem Gefährt eben möglich war, und sagte
galant: „Küss die Hand, gnädige Frau!“
„Ich wusste gar nicht, dass Sie ein Charmeur sind, Herr Schuster“, flötete Tanja. „Ich denke, sie zwei
werden sich gut verstehen.“
Mit diesen Worten stellte sie
den Rollstuhl direkt neben dem von Lisa ab, befestigte die Bremse und war auch
schon wieder verschwunden.
Lisa wusste nicht so recht,
ob sie wirklich an einem Gespräch mit diesem Herrn interessiert war. Aber wie
es schien, blieb ihr gar nichts anderes übrig. Es wäre ja auch sehr unhöflich
gewesen, nichts zu sagen und ihn quasi zu ignorieren.
„Na, junge Frau, womit wollen
wir denn jetzt die Zeit totschlagen?“
Mit diesen Worten begann
Helmut verschmitzt, Lisa in ein Gespräch zu verwickeln.
„Ach wissen Sie“, antwortete
Lisa ein bisschen verlegen, „ich habe mir gerade über meine Hände Gedanken
gemacht.“
Etwas verdutzt schaute der
alte Mann Lisa an und anschließend auf seine eigenen Hände.
„Das bringt Unglück, seine
Hände zu betrachten“, sagte er dann schmunzelnd. „Das hat meine Mutter
zumindest immer behauptet.“
„Den Mythos kenne ich auch“, entgegnete
Lisa.
„Und, hatten Sie in manchen
Dingen auch zwei linke Hände, so wie ich“, erkundigte sich der Mann.
„Nein, eigentlich nicht. Ich war
eher ziemlich geschickt, habe auch viel gestrickt und gestickt. Aber leider
geht das heute nicht mehr. Doch wenn ich es recht bedenke, ist das ja sowieso keine
Männersache.“
„Nein. Das ist es nicht. Und
wenn ich meine Hände so betrachte, dann finde ich, dass man ihnen sogar heute
noch ansehen kann, dass es Arbeiterhände sind, die zeitlebens hart zupacken
mussten.“
„Es kann ja nicht jeder im
Büro arbeiten“, erwiderte Lisa daraufhin wohlwollend und Herr Schuster
entgegnete: „Und nicht jeder kann Dirigent werden.“
„Wie recht sie haben.“
„Mir sind die Hände
gebunden“, meinte Herr Schuster nach einer Weile des Schweigens.
„Wie bitte?“, fragte Lisa
nach.
„Mir sind die Hände
gebunden“, wiederholte er, „oder ‚Eine Hand wäscht die andere‘.“
„Ach so, jetzt verstehe ich. Ja,
Sie haben recht, wenn man darüber nachdenkt, kommen einem bestimmt noch viele
Sprichwörter mit den Händen in den Sinn.“
„Und, wollen Sie mir
vielleicht ihre Hand reichen, damit ich für Sie darin in die Zukunft schaue?“
„Ach, lieber nicht“,
antwortete Lisa leise, „denn wie die ausschaut, das wissen wir doch beide. Oder?“
„Ich ahne, was sie meinen“,
antwortete der ältere Herr, „doch ich denke, es liegt an uns, ob wir
mit der uns noch verbleibenden Zeit etwas Sinnvolles anfangen, nicht wahr.“
Lisa sah Herrn Schuster an und
plötzlich war es, als mache sich ihre Hand selbständig.
Ohne weiter darüber
nachzudenken, legte sie ihre linke Hand auf seine rechte.
Herr Schuster sah ihr direkt
in die Augen, als er spitzbübisch äußerte: „Kalte Hände, warme Liebe.“
© Martina Pfannenschmidt,
2020
Liebe Martina, ich sehe die beiden förmlich vor mir. Wie süß und berührend. Ich habe schon oft gedacht, dass alte Menschen doch so viel zu erzählen haben und auch noch viel zu geben haben...Wenn man sie denn lässt. Aber man muss sich schon zu ihnen bemühen, sonst kann man diesen Schatz nicht heben. Ich bin bei meiner eigenen Oma oft zur Ruhe gekommen, einfach weil sie mit nichts beschäftigt war aufgrund ihres hohen Alters. Oft habe ich nur ihre Hand gehalten und es genossen, dass sie noch da war. LG Tanja
AntwortenLöschenLiebe Tanja, diese Ruhe und Stille, Weisheit und Besonnenheit der Alten ist es, die mich fasziniert und dann denke ich daran, dass sie ja auch mal jung und voller Elan waren - ja und natürlich denke ich auch darüber nach, dass ich ihnen folge, wenn ich denn ein hohes Alter erreiche.
LöschenDas Leben ist einfach lebens- und bemerkenswert - in jedem Alter!
Danke für deinen Besuch und den Kommentar, liebe Tanja! Martina
ja die Hände
AntwortenLöschenwenn man sie einmal nicht richtig gebrauchen kann merkt man erst wie wichtig sie sind ..
wie so manch Anderes
eine schöne Geschichte
liebe Grüße
Rosi
Liebe Rosi, oft reicht schon ein Pflaster an einem Finger, dass man bemerkt, wie es einschränkt. - Danke für deinen Besuch und dafür, dass du dir die Zeit zum Lesen und für einen Kommentar genommen hast. - LG Martina
LöschenGuten Morgen, liebe Martina,
AntwortenLöschenda hast Du wieder eine wunderbare Geschichte geschrieben, herzlichen Dank dafür!
Ja, was wären wir ohne unsere Hände? ....
Ich wünsche Dir eine schönen Tag und noch eine gute neue Woche!
♥️ Allerliebste Grüße,Claudia ♥️
Bestimmt werden deine Hände heute wieder 'vollen Einsatz' zeigen. - Und meine ebenso. Gerade wieder sind sie fleißig und helfen mir, diesen Text zu schreiben. :-) - Ganz lieben Dank für deinen Besuch und den Kommentar und auch dir eine glückliche Woche! Martina
LöschenLiebe Martina,
AntwortenLöschengern habe ich Deine neue Geschichte gelesen. Hände sagen auch sehr viel über uns aus, sie sind genial geschaffen.
Mehrmals hat meine Mutter meine Hände als Wurstfinger bezeichnet und als ich älter wurde, habe ich ihr dies verboten. Meine Hände sind ein Geschenk Gottes,
ich bin stolz auf meine kräftigen Schaffhände.
Deine Geschicht geht einem zu Herzen liebe Martina, so eine Berührung, kann dem Lebensabend die Lebensfreude zurück geben.
Ich reiche Dir die Hand,- Du wundervolle Seele.
Danke für Deine Hände, dass sie diese weisen Geschichten aufschreiben.
Gruß Helga
Liebe Helga, puh, da weiß ich ja kaum, was ich sagen soll. Danke auf jeden Fall, für den Besuch, den Kommentar und die überaus netten Worte über meine Geschichte(n). - Als ich diese schrieb, kam mir der Gedanke, dass ich ohne meine Hände all die Geschichten gar nicht schreiben könnte - und ich habe mich von Herzen dafür bedankt, dass es mir möglich ist.
LöschenDeine Mutter war gewiss gar nicht bewusst, was sie mit ihrer Aussage über deine Hände 'anrichten' konnte. - Es ist schön, dass du mit deinen Händen so wunderbar kreative Dinge erschaffen kannst. - Ja, reichen wir uns die Hände. - Und das sollten wir alle tun, wenn dieser Wahnsinn, dem man den Namen 'Corona-Virus' gegeben hat, beendet ist. - Liebe und sonnige Grüße! Martina
liebe Martina...eine sehr nachdenklich machende Geschichte die anzeigt wie wenig wir doch über unsere Hände - auch die Füß übrigens - uns gedanken machen, obwohl "sie" doch so viel für uns tun.
AntwortenLöschenVernachlässigung" schimpfen wir wenn wir sie nicht eincremen...
zu wenig geschont" wenn wir mit ihnen zuviel am Stück arbeiten"
sie nicht beachtet" wenn wir vergessen was sie alles für uns tun"...
du hast ein lebendiges Bild mit deiner Geschichte gezeichnet, eines,
vor dem unsere Gedanken lieber ruhn...
dankeschön, dass du uns daran erinnert hast...
lieben Gruß angelface
Danke dir für den Besuch und die lieben Worte. - Es ist schon so, wir nehmen sehr vieles als gegeben hin. Erst wenn irgendwelche Funktionen unseres Körpers eingeschränkt sind, kommen wir ins Grübeln und vielleicht auch in die Dankbarkeit dafür, wie wertvoll unser Körper für uns ist. Ohne ihn können wir unser Leben nicht leben und wir danken es 'ihm' so wenig. - LG Martina
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