Reizwörter: Wünsche, Hoffnungsschimmer,
mucksmäuschenstill, butterweich, innehalten
Das
neue Jahr war gerade mal ein paar Tage alt, als ich nach einer kurzen Reise
zurück kehrte und meiner Oma einen Besuch abstattete.
Ich ging in ihre Küche, da ich sie dort vermutete, doch dort fand ich sie nicht. Auch in ihrem Wohnzimmer war es mucksmäuschenstill.
Nichts war von ihr zu sehen oder zu hören, weshalb ich nach ihr rief.
„Hier bin ich“, kam es aus dem Schlafzimmer und
schon kam sie mir freudestrahlend entgegen.
Wir nahmen uns in die Arme und wünschten uns gegenseitig
ein glückliches neues Jahr.
Während ich bei einer Tasse Tee von meiner Reise
erzählte, fiel mein Blick auf ein kleines Buch, das auf Omas altem Sekretär lag.
Ich nahm es an mich und schaute interessiert hinein. Es war ihr Telefon- und
Adressenverzeichnis. Obwohl es schon ziemlich abgegriffen und in die Jahre
gekommen war, ließ sich doch erahnen, wie butterweich der Ledereinband
einst gewesen sein musste.
Sogleich fiel mir auf, dass viele Namen und Adressen
durchgestrichen waren und ich erkundigte mich, warum das so war.
„So ist das nun mal im Leben“, antwortete Oma mir in
ihrer liebevollen Art. „Ich habe mich schon von vielen Menschen verabschieden
müssen. Sie sind aber nicht alle verstorben, sondern einige sind verzogen oder es
passte einfach nicht mehr.
Wenn man das erkennt, ist es klüger, eine
Freundschaft zu beenden. Das wirst du auch noch merken, dass
immer wieder neue Menschen in dein Leben treten, die zu dem Zeitpunkt deines Lebens dann besser zu dir
passen.“
„Omi“, fragte ich sie nach einer Weile interessiert,
„hast du eigentlich besondere Wünsche an das neue Jahr oder hast du dir
etwas ganz Bestimmtes vorgenommen?“
Sie erwiderte: „Ach weißt du, ich denke, dazu
benötigt man nicht unbedingt den Jahreswechsel, um Rückschau zu halten, Wünsche
zu formulieren oder eine Veränderung zu wagen. Das kann man an jedem Tag des Jahres
tun. Allerdings gebe ich zu, dass der Übergang von einem alten zu einem neuen
Jahr dafür sehr geeignet scheint. Wer möchte schon Altes und Schweres mit
hinüber nehmen in das neue Jahr, nicht wahr?“
Ich dachte über ihre Worte nach. Nein, Altes und
Schweres möchte wohl niemand mit hinüber nehmen und doch geschieht es allzu
oft.
„Im letzten Jahr habe ich doch in einem Unternehmen
bei der Inventur geholfen, um mir ein bisschen Geld dazu zu verdienen“,
erzählte ich und fuhr fort: „Weißt du, ich hab mir diesmal am Jahresende
vorgestellt, dass ich auch so etwas wie eine Inventur meines Lebens mache. Ich
hab geschaut, was im vergangenen Jahr gut und was nicht so gut war. Was möchte
ich mitnehmen und was loslassen oder verändern.“
„Das hast du sehr klug gemacht! Es kann nicht
schaden, einmal innezuhalten und Vergangenes zu betrachten. Was möchtest
du weiterhin mitnehmen und bei dir tragen und wovon möchtest du dich
verabschieden? Was hält dich bei deinem Vorankommen auf und was fördert es?
Dabei ist es sicher wichtig zu erkennen, dass alle
Erfahrungen, die wir in unserem Leben machen, uns bereichern. Und ich meine
wirklich Alle, denn nichts kommt grundlos in unser Leben. Wenn wir schließlich unsere
Erkenntnisse aus unseren Erfahrungen gezogen haben, dürfen sie gehen. Wir
dürfen sie loslassen.“
Plötzlich musste ich schmunzeln, weil mir durch den
Kopf ging, weshalb Oma vorhin aus ihrem Schlafzimmer kam. Sie räumt nämlich
immer ihren Kleiderschrank auf und aus, sobald ein neues Jahr da ist. Vielleicht
ist das so etwas wie eine Marotte von ihr. Andererseits macht es sehr deutlich,
dass wir für Neues zuerst einmal Platz schaffen müssen. Altes raus - Neues
rein.
„Omi“, fragte ich, weil es mir gerade in den Sinn
kam, „glaubst du, es gibt einen
Menschen auf dieser Welt, der rundherum glücklich und zufrieden ist? Immer? Zu
jeder Zeit seines Lebens?“
„Vermutlich nicht. Doch ich denke, dass die Kunst
darin besteht, wie wir mit unserem sogenannten Schicksal umgehen. Für jeden von
uns ist das Leben eine Berg- und Talfahrt. Manchmal sind wir oben, manchmal unten.
Nichts währt ewig. Alles ist immer in Bewegung und ändert sich. Und diese
Veränderungen können uns zu Boden ziehen oder auch Aufwind geben. Das hängt
ganz gewiss maßgeblich von unserem Charakter ab. Und der wird größtenteils durch
diese Veränderungen geformt.“
„Du hast recht, im Leben geht es manchmal zu, wie
auf einer Achterbahn“, warf ich schmunzelnd ein.
„Das stimmt wohl und dein Vergleich zeigt ja außerdem, dass es nach einer Talfahrt rasch wieder hinauf gehen kann. Und so ist es wohl auch im wahren Leben. Auch die
schlechten, schlimmen Zeiten, werden vergehen.“
„Es sei denn“, warf ich ein, „wir halten sie mit
unseren Gedanken weiterhin fest.“
„Genauso verhält es sich“, erwiderte Oma und ich sah
ihren Augen an, wie stolz sie in diesem Moment auf mich war.
„Man kann das Leben aber ebenso mit einer Fahrt auf
einem Fluss vergleichen“, meinte sie. „Es gibt niemals einen Stillstand. Ein
Fluss ist immer in Bewegung. Manchmal gibt es unruhige Strecken. Da müssen wir
uns in unserem Boot gut festhalten, um nicht herauszufallen oder umzukippen.
Doch nach diesen Zeiten wird es auch wieder ruhige Streckenabschnitte geben.“
„Bis die nächste Stromschnelle kommt“, warf ich
lachend ein und Oma nickte zustimmend.
Nach einer Weile meinte sie: „Ich habe dir vorhin
nur indirekt auf die Frage geantwortet, ob ich Wünsche an das neue Jahr habe.
Es war mir bisher vielleicht noch nicht so recht bewusst, doch jetzt kann ich es in
Worte fassen. Ich wünsche mir, dass mein Gehör nicht nachlässt. Besonders in Bezug
auf die Stimme in mir. Ihr möchte ich meine besondere Aufmerksamkeit schenken.
Diese Stimme ist in turbulenten Zeiten wie ein Hoffnungsschimmer für
mich, denn sie rät mir: Sei zufrieden mit dem, was du bist, was du tust und was
du bereits erreicht hast.“
„Und ich möchte im neuen Jahr wenig zurück schauen“,
erwiderte ich Oma daraufhin. „Ganz im Gegenteil. Ich möchte nach vorne schauen
und ich möchte lernen, mein Boot sicher zu manövrieren, um den Stromschnellen
nach Möglichkeit auszuweichen.“
Oma sah mich liebevoll an und entgegnete: „Wenn dir
das gelingt, wirst du ein glückliches Leben führen und du wirst unglaublich
stolz auf dich sein.“
© Martina Pfannenschmidt, 2020
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Gute Gedanken zum Jahreswechsel. Nach vorne schauen und Vergangenes hinter sich lassen. Inventur machen und überflüssiges hinter sich lassen und vor allem zufrieden sein,das ist der Weg zum Glück.
AntwortenLöschenLiebe Martina ich wünsche dir einen schönen Tag. LGLore
Danke dir liebe Lore, für den Kommentar! - Manchmal muss man zuerst erkennen, wovon man sich besser verabschieden sollte :-). - LG Martina
LöschenHab ich doch mal wieder Deine Seite zur rechten Zeit angeklickt, liebe Martina.Schön, Deine Geschichten, auch im neuen Jahr wieder zu lesen.Dass mein Gehör nicht nachlässt, besonders in Bezug auf die Stimme in mir,ist auch mein Wunsch. Diese innere Verbindung heilt und leitet uns.
AntwortenLöschenSehr schön geschrieben liebe Martina.
Alles Liebe.
Helga
Liebe Helga, immer am 15. eines Monats veröffentlichen wir eine Reizwörtergeschichte. - In diesem Jahr war ich bisher ein bisschen schreibfaul. Es gibt allerdings noch mehr 'Hobbys', als nur das Schreiben. Das muss sich dann manchmal hintenan stellen. Lach - Danke dir für den Kommentar und halt die Ohren offen!
LöschenLG Martina
eine sehr schöne Geschichte zum Jahresanfang
AntwortenLöschenfür mich ist der Jahreswechsel eigentlich ein Tag wie jeder andere
ich fasse auch keine "gutenVorsätze2 die sich ja meist doch nicht durchhalten lassen
und ich bin zufrieden mit dem was mir jeder Tag bringt
es gibt helle und dunkle
aber auch wenn man nach vorne schaut..
eines sollte man nie vergessen
nämlich wo man her kommt
leider scheinen so manche Zeitgenossen da ein sehr schlechtes Gedächtnis zu haben ;)
ich glaube ich habe dir noch keine guten Wünsche für das neue Jahr dagelassen
das möchte ich hiermit nachholen
alles Liebe
Rosi
Danke für die guten Wünsche, liebe Rosi, ich gebe sie 1 : 1 an dich zurück. Auch dir wünsche ich ein glückliches, helles und zufriedenes neues Jahr.
LöschenEs stimmt schon, dass man seine Wurzeln kennen und schätzen sollte.
Mir hilft es, mir bezüglich der Familie und des Stammbaumes wirklich einen knorrigen alten Baum vorzustellen. - Ein kleines Ästchen davon bin ich und auch von ihm gehen wieder kleine Äste ab.
Alles Liebe für dich!
Martina
Guten Morgen liebe Martina,
AntwortenLöschendas sind herrliche Worte und Wünsche in Deiner neuen Geschichte, herzlichen Dank dafür!
Ich wünsche Dir einen zauberhaften Tag!
♥️ Allerliebste Grüße,Claudia ♥️
Danke dir, liebe Claudia! - Ich wünsche dir auch einen glücklichen Tag und sende dir liebe Grüße! Martina
LöschenGuten Morgen liebe Martina,
AntwortenLöschendeine Geschichte hat mir sehr gut gefallen, sie passt zum einen sehr gut zum Jahresanfang, aber eigentlich auch an jedem anderen Tag des Jahres. Innehalten, nachzudenken, was überflüssig oder sogar belastend ist, das sollte man immer mal wieder und sich dann davon befreien so gut wie möglich. In vielen Dingen habe ich mich und mein eigenes Verhalten wiedergefunden!
Danke für diese Geschichte und herzliche Grüße zu dir
Regina
Schau, liebe Regina, wie interessant: Du hast dich in meiner Geschichte wiedergefunden und ich in deiner. - Das ist doch wirklich schön!
LöschenDanke für deinen Kommentar und ganz liebe Grüße!
Martina
Vielen lieben Dank für die schöne Geschichte und für den Link in der Linkparty!
AntwortenLöschenLiebe Grüße
Elke
Gerne! Und Danke für deinen Besuch bei mir!
LöschenLG Martina
Eine wunderschöne Geschichte liebe Martina,
AntwortenLöschengute Rat von der Oma, man sollte immer mal wieder drauf hören was äktere Menschen einen sagen und bei bringen können.
Ein schöne Lebensweisheit!
Lieben Gruss Elke
Liebe Elke, Danke für deinen Besuch und den lieben Kommentar.
LöschenIch hab schon sehr viele Oma-und-Enkel-Gesprächs-Geschichten :-)
geschrieben, weil ich das zum einen aus meinem eigenen Leben kenne und
zum anderen ganz deiner Meinung bin.
LG Martina