Freitag, 10. November 2017

Lasst uns ein Licht sein

Aufgeregt betrat Annegret das Büro. „Das hättest du hören müssen, wie der Chef mit Angelika Schlitten gefahren ist. Ich konnte zwar nicht herausfinden, worum es ging, aber neulich fehlte doch Geld in der Kaffeekasse, die wird doch nicht …“
Wirsch wurde sie von Mathilde unterbrochen. „Annegret hör auf mit deinen Verurteilungen und Anschuldigungen. Du weißt doch gar nicht, worum es ging, hast du gerade gesagt. Und übrigens fehlte gar kein Geld in der Kaffeekasse. Wie sich inzwischen herausgestellt hat, war es nur ein Irrtum. Also bitte hör auf!“
Annegret reagierte überrascht auf die schroffe Reaktion ihrer Kollegin: „Ist ja schon gut!“, maulte sie und setzte sich an ihren Platz. In Mathilde brodelte es. Immer wieder dasselbe. Ihre Kollegin hörte überall die Glocken läuten, wusste aber selten, wo sie bimmelten. Das konnte man ihr irgendwie nicht austreiben.
Nach Feierabend schlenderte Mathilde durch die Stadt. Nur noch eine gute Woche, dann war Heiligabend. Sie erinnerte sich zurück, wie es in Kindertagen war. Damals konnte man es kaum erwarten, bis es endlich soweit war.
Die Erwartungen an das Fest waren immer sehr groß – auch heute noch. Jeder hatte seine eigenen Vorstellungen davon, wie es abzulaufen hatte. Genau das war das Problem. Selten passten die Wünsche und Vorstellungen der Mitmenschen überein. Schon seit Jahren wünschte sie sich heimlich, ein paar entspannte Tage mit ihrer Freundin zu verbringen. Doch das war ganz ausgeschlossen. Was hätten ihre Eltern dazu gesagt und auch ihre Schwester mit Familie erwartete, dass sie zu Besuch kam. Das machte sie ja auch gerne. Sie freute sich auf die Kinder, doch musste dieser Besuch immer zu Weihnachten stattfinden?
Auch ihre Freundin hatte Familie. Sie putzte, kochte und backte im Vorfeld wie eine Weltmeisterin. Gerade zu Weihnachten musste es das beste und schönste Essen sein. Dafür hatte Mathilde kein Verständnis. Wäre es nicht besser, ein einfaches Gericht zu kochen und stattdessen mehr Zeit zu haben, um mit den Kindern zu spielen? Und was hatte das alles überhaupt mit dem Sinn von Weihnachten zu tun?
Es war sicher ein schöner Brauch, sich an Weihnachten zu beschenken. Gott hatte uns mit seinem Sohn beschenkt, so war es schön, sich gegenseitig mit einem Geschenk daran zu erinnern. Aber mussten es solche Berge an Geschenken sein? Sie hatte alles beisammen, was sie den anderen übergeben wollte. Schon lange im Vorfeld hatte sie überlegt, wie sie jedem eine echte Freude machen könnte. Sie verschenkte gerne etwas ganz Persönliches. Das fand sie besser, als einen Gutschein oder Parfüm zu verschenken.
Ihr Blick fiel auf ein Ehepaar, das mit mehreren Taschen bepackt sein Auto ansteuerte. Mathilde schmunzelte: Wenn der Platz im Kofferraum und auf der Rückbank nicht ausreichte, konnten sie ja noch ein paar Tüten auf dem Dach verstauen. Die Ladung müsste nur gut gesichert sein, damit sie nicht unterwegs verloren ging.
Wahnsinn! Es war einfach ein Wahnsinn, wie viel Geld die Menschen zum Weihnachtsfest und für Geschenke erübrigten. Und manchmal fiel auch ein kleiner Betrag für die Flüchtlinge oder andere wohltätige Aktionen dabei ab. Gerade zum Weihnachtsfest gab es viele Bittbriefe und Wohltätigkeitsveranstaltungen. Sie fragte sich, ob es nicht sinnvoller war, sich vor Ort einzusetzen und den Menschen direkt zu helfen, als an Organisationen zu spenden, von denen man nicht wusste, wie viel von dem Geld wirklich dort ankam, wo es eigentlich gebraucht wurde.
Es war so viel im Argen auf der Welt. Auch 2000 Jahre nach der Geburt von Jesus, dem Sohn Gottes, hatten die Menschen nicht wirklich dazu gelernt. Immer noch gab es Kriege, Menschen schossen auf Menschen. Warum? Hatte er nicht die Liebe gebracht und gepredigt? War es in seinem Sinn, wie wir uns verhielten? Betrachtete man die Welt, sah man überall viel Not und großes Leid. Wir in Europa bilden eine kleine Keimzelle des Friedens. Jeder, der zu uns kam, suchte genau diesen Frieden.
Warum machten uns die Menschen Angst, die im Frieden mit uns zusammen leben wollten? Weil sie eine andere Hautfarbe hatten? Mathilde dachte zurück an ein Spiel aus Kindertagen: ‚Wer hat Angst vorm schwarzen Mann? – Niemand! – Und wenn er kommt? Dann laufen wir!’
War es diese Angst vor dem ‚schwarzen Mann’ unserer Kindertage, die uns dunkelhäutigen Menschen gegenüber skeptisch sein ließ?
Wenn man in diesen Tagen durch die Stadt ging, war es unübersehbar: Viele Menschen aus anderen Kulturen belebten das Stadtbild. Konnten wir nicht auch von ihnen lernen? Machten sie unser Land nicht bunter? Warum machte uns die Situation so viel Angst? Weil es so viele waren oder weil wir Angst hatten, unseren Wohlstand mit ihnen teilen zu müssen?
Unsere Eltern hatten dieses Land zum Blühen gebracht und jetzt kamen die Fremden um die Ernte einzufahren? Waren das die Gedanken einiger? Gott sei Dank waren sie in der Minderheit, doch genau das waren die Menschen, die ihr persönlich Angst machten. Das waren die, die Hass streuten und vor Gewalt nicht zurück schreckten.
Die Welt war im Umbruch. An allen Ecken und Enden ‚brannte’ es und wir als Deutsche konnten uns da nicht heraus halten. Wir hatten die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, zu teilen und die Menschen willkommen zu heißen und ihnen zu zeigen, was es wirklich bedeutete, im Frieden miteinander zu leben. Wir mussten unser engstirniges Denken ändern. Wir waren Deutsche, ja, aber wir waren auch Europäer und wir mussten lernen, global zu denken. Daran führte kein Weg vorbei. War nicht diese Zeit genau die richtige, zu zeigen, was es bedeutete, ein Christ zu sein? Was es nicht an der Zeit zu zeigen, dass wir Christen Weihnachten nicht nur mit Stress in Verbindung bringen? War es nicht an der Zeit, unser Denken zu ändern und nicht nur etwas zu spenden, um unser Gewissen zu beruhigen, sondern aus tiefstem Herzen und aus Überzeugung zu sagen: Wir haben so viel, davon geben wir euch gerne etwas ab? War es im Sinne der Resonanz nicht so, dass man immer belohnt wurde für gute Taten? Wie würde das aussehen, wenn ein Tages ein ganzes Land für seine guten Taten belohnt würde?
War die jetzige Zeit nicht genau die richtige, das Licht von Bethlehem weiterzureichen und die Welt Stück für Stück ein kleines bisschen heller werden zu lassen? Wäre es nicht schön, wenn dieses Ausbreiten des Lichtes in der Welt von diesem Land ausginge?


© Martina Pfannenschmidt, 2015