Samstag, 16. April 2022

Auf Wanderschaft

Ameise, Ankunft, alt, angeben, angeln - das waren diesmal unsere Vorgaben.

Bei Lore und Regina gibt es natürlich auch wieder eine Geschichte zu lesen.

 

Amelie kramte nach einem Taschentuch, das sie frisch gebügelt aus ihrem Nachtschränkchen angelte. Anschließend packte sie all ihre Habseligkeiten in das Tüchlein, suchte nach einem kleinen Stöckchen, band den Stoff daran, schulterte es, und verließ erhobenen Hauptes den Ameisenhügel.

Amelie war es einfach leid, tagein und tagaus zu schuften. Und wozu das alles? Nicht einmal einen Urlaub hatte man ihr genehmigt. Jetzt reichte es ihr. Sie zog aus. Hinaus in die Welt. Sie wollte unbedingt wissen, wie andere Arten ihr Leben gestalten. Das, was sie als Ameise zu erledigen hatte, schien ihr einfach viel zu anstrengend und sinnlos. Und so nahm sie ihre Beine in die Hand und verschwand, ohne sich zu verabschieden und ohne dass es ein Mitbewohner hätte mitbekommen können. Wie auch: sie waren ja alle viel zu beschäftigt.

Schnellen Fußes und mit einem Liedchen auf den Lippen durchschritt sie den Wald. Irgendwann würde sie bestimmt einem Waldbewohner begegnen, der ein anderes Leben führte, als sie es kannte. Sie war schon sehr gespannt darauf.

Und so dauerte es nicht lange, bis ein schwarzer Käfer ihren Weg kreuzte. Aber was machte er da und weshalb lief er rückwärts?

Amelie beobachtete ihn eine Weile, bevor sie ihn auf sein merkwürdiges Tun ansprach: „Entschuldigung, darf ich dich fragen, was du da machst?“

Der Käfer schreckte zusammen. Er hatte Amelie gar nicht gesehen. Wie auch. Er hatte ja keine Augen auf dem Rücken.

Schnaufend blieb er stehen und lehnte sich an die Kugel, die er mit seinen Hinterbeinen vorangetrieben hatte und die seinen eigenen Körper um ein Vielfaches überragte.

Etwas kurzatmig von der Anstrengung erzählte er ihr bereitwillig, dass seine Frau schwanger sei und er nun dafür sorgen müsse, dass der Nachwuchs nach dem Schlüpfen auch Nahrung fände.

„Und du, was machst du so?“, fragte er anschließend interessiert.

„Ich? Ich bin auf Wanderschaft.“

„Auf Wanderschaft? Hast du keine anderen Aufgaben in deinem Leben?“

„Ich nehme mir eine Auszeit!“, antwortete Amelie selbstbewusst.

„Sag, könntest du mir dann vielleicht helfen? Ich muss diese riesige Kugel einbuddeln. Und mit deiner Hilfe würde alles viel schneller und leichter gehen.“

„Ach nee, lass mal“, entgegnete die Ameise. Schließlich wollte sie nicht mehr arbeiten und das, was der Käfer da vorhatte, hörte sich nach sehr viel Arbeit an.

Etwas knurrig zog der Käfer weiter.

Amelie ließ sich nicht davon beirren. Schließlich hatte sie eine Mission. Sie wollte solange suchen, bis sie jemanden fand, der ein wunderbar leichtes Leben führte. Ein Leben so ganz ohne Arbeit.

Irgendwann wurden ihr die Beine schwer und die Füße schmerzten, weshalb sie sich unter eine alte Buche setzte, um eine Rast zu machen. Amelie kramte etwas Essbares aus ihrem Tuch, verspeiste es hungrig und hielt anschließend ein Nickerchen, das jedoch recht bald und ziemlich abrupt beendet wurde, als man sie verärgert ansprach: „He du, was machst du hier? Kannst du da mal weggehen!“

Amelie schaute etwas betroffen. Vor ihr saß ein verärgertes Eichhörnchen, das grantig fort fuhr: „Du sitzt auf meinem Vorratsschrank! Also verschwinde!“

Vor lauter Schreck sprang die Ameise auf und trat einige Schritte zur Seite. Schon begann das Hörnchen, mit den Vorderpfoten eifrig an der Wurzel der Buche zu scharren. Es dauerte auch gar nicht lange, da kam ein beachtlicher Vorrat an Nüssen und Eicheln zum Vorschein. Hastig bediente sich der Nager und bedeckte den Rest wieder mit der Erde.

Geschickt öffnete er die harte Schale der Nuss und ließ sich das köstliche Innenleben schmecken.

„Bist du immer so gnatzig?“, fragte Amelie ihn.

„Nur wenn ich hungrig bin!“

„Sag“, forschte sie weiter, „hast du eine besondere Aufgabe in deinem Leben?“

Das Hörnchen schaute Amelie verwundert an. Eine besondere Aufgabe?

„Natürlich habe ich eine Aufgabe. Was denkst du, wie diese Nüsse unter die Erde gekommen sind und wer sie gesammelt und dort vergraben hat? Na, was denkst du, wer das war? Ich war das! Wer sonst! Ich muss doch für mein Überleben sorgen! Du etwa nicht?“

Irgendwie fühlte sich Amelie von dem Hörnchen provoziert: „Ich muss nicht wie du alleine für mein Überleben sorgen“, hörte sie sich plötzlich sagen. „Ich lebe in einem großen Staat mit all meinen Freunden und meiner Familie zusammen. Und jeder von uns hat seine Aufgabe. Vom Bauplan, über die Hygiene bis hin zur Kommunikation ist alles ganz wunderbar geregelt.“

„Keine Ahnung, warum du damit jetzt so angeben musst“, entgegnete das Hörnchen. „Wenn alles so ist, wie du sagst, hättest du auch eine wichtige Aufgabe in eurem Staat. Was machst du dann hier so alleine?“

Ohne auf Amelies Antwort darauf zu warten, flitzte das Eichhörnchen am Stamm der Buche hoch und verschwand in dessen Krone auf Nimmerwiedersehen.

Amelie blieb alleine zurück und ein Gefühl stieg in ihr auf, das ihr völlig unbekannt war: Heimweh! Nun war sie kaum einen halben Tag von zuhause entfernt und schon wurde ihr bewusst, dass sie nicht für das Alleinsein gemacht war. Sie fühlte sich von jetzt auf gleich völlig alleine und hilflos. Wo war es hin, das Selbstbewusstsein, das sie bis eben noch ausgezeichnet hatte?

Die Ameise sah sich um, entdeckte ein in der Nähe stehendes Blümchen, lief hin, nahm einen kräftigen Schluck vom süßen Nektar und wusste, was nun zu tun war. Sie musste, nein, sie wollte so schnell es ging wieder zu ihrem Staat zurück.

Ein Igel, der die Unterhaltung der beiden unbeobachtet verfolgt hatte, kroch aus seinem Versteck heraus und fragte, als er Tränen in Amelies Augen schimmern sah: „Soll ich dich wieder nachhause bringen? Wenn du magst, kannst du dich an meinen Stacheln festhalten und ab geht die wilde Fahrt!“

Amelie ließ sich nicht zweimal bitten. Sie wollte so schnell es ging wieder dorthin, wo sie ihren Platz hatte. Und so krabbelte sie vorsichtig zwischen den Stacheln des Igels hindurch auf dessen Rücken und ließ sich nach Hause tragen.

Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass man ihr Verschwinden sehr wohl bemerkt hatte und so hielten alle bei ihrer Ankunft kurz inne, um die Ausreißerin willkommen zu heißen. Bald darauf gingen sie wieder ihrer Arbeit nach. Auch Amelie. Und sie ging ihr leichter von der Hand, als jemals zuvor.

© Martina Pfannenschmidt, 2022



Diese Geschichte nimmt an Elkes 'froher und kreativer Linkparty' teil.

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6 Kommentare:

  1. Liebe Martina,
    Amelies Geschichte hat mir sehr gefallen, besonders die Botschaft, die darin zu lesen ist! Wie schön ist es doch, wenn man weiß, wohin man gehört! Vielen Dank dafür und ein schönes Osterfest dir und deinen Lieben,
    Regina

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    1. Danke, liebe Regina! - Auch dir wünsche ich ein frohes Osterfest! Martina

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  2. welch eine wunderbare Geschichte liebe Martina...jaha...ich komm schon wieder um bei dir zu lesen, was ich die letzten Tage doch so zemlich vernachlässigt hatte!...mea culpa...
    umsomehr hat sie mich gefangengenommen da du die Gabe hast lehrreiches mit vergnüglicher Feder aufzuschreiben und eine Geschichte aus den Wörtern gebastelt hast die gut nachvollziehbar ist.
    Die Gemeinschjaft miteinander verbindet das eigene Gefühl etwas an bestehendem zu ver/ändern um etwas anderes zu suchen, weil dies - in diesem Kopfkinofilm die Ameise ist...
    durchaus übertragbar auf Mensch und jedes andere Tier...
    eine bemerkenswerte Vorlesegeschchte...
    die mir sehr gefallen hat...
    herzlichst ein Gruß zu dir
    angelface

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    1. Ich danke dir von Herzen für deinen Besuch und den liebevollen Kommentar. Es gibt so viele Dinge in meinem Kopf, die ich gerne weitergeben möchte. Auf diese Art und Weise - in Schriftform - ist das eine gute Möglichkeit - und wenn der Leser dann noch erkennt, was mein Ziel hinter dieser Erzählung ist, beglückt mich das umso mehr! - Stürmische - aber auch sonnige - Grüße schicke ich dir (der Nordwind bläst über meinen Balkon und es ist einfach zu kalt, um dort - trotz Sonne - zu sitzen)! Martina

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  3. eine herrliche Geschichte ..
    ja.. so mancher der sich wie in einer Tretmühle fühlt fragt sich
    wozu sein Leben noch taugt
    könnte er es nicht leichter haben
    haben die anderen nicht mehr Spaß?
    Sicher .. es gibt das.. aber wenn man genau hin schaut haben auch die Müßiggänger ihre Probleme ..
    man kann überall für mehr Freude sorgen

    liebe Grüße
    Rosi

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  4. Dankeschön! - Es ist schon eigenartig, dass wir oft glauben, andere hätten es besser als wir. Aber wenn man genau hinschaut, dann sieht man, was du auch schreibst, dass auch sie ihre Probleme haben. - Hab einen schönen Restsonntag! Martina

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