Sonntag, 15. September 2019

Träumerle


Wie bereits angekündigt, 
gibt es heute nach sehr langer Zeit 
wieder eine 
Reizwörtergeschichte 
zu lesen.
Sie entstand aufgrund folgender Wörter:
Paradies – Adlerhorst – Abenteuer – vorwitzig - laufen
Weitere Geschichten mit diesen Wörtern könnt ihr bei
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Langsam wurde es draußen dunkel und es regnete in Strömen.  Scheinwerfer durchdrangen die Dunkelheit und ein Strahl fiel dabei auf Teddy. Er beobachtete, wie ein Autoreifen durch eine große Pfütze fuhr. Bald darauf kam das Fahrzeug auf dem Parkstreifen vor dem Geschäft, in dessen Schaufenster man ihn gesetzt hatte, zum Stehen.
Eine junge Frau sprang leichtfüßig aus dem Auto. In der Hand hielt sie eine große Plastiktüte, die sie sich zum Schutz vor dem Regen über ihren Kopf hielt.
Während Teddy die Szene beobachtete, sah er unwillkürlich die Regentropfen über die Fensterscheibe laufen. Für einen kurzen Moment trafen sich dabei die Blicke der beiden.
Bald darauf erklang die alte Türglocke. Ding-Dong!
Teddy liebte dieses Geräusch. Es war aber auch das Einzige, was er an diesem Ort als schön bezeichnen würde. Sich selbst eingeschlossen.
Vor Wochen, als man ihn hier abgegeben hatte, verband er mit diesem Klang die Hoffnung, dass jemand den Laden betreten möge, um ihn mit zu sich nach Hause zu nehmen. - Ein liebevolles neues Zuhause war sein einziger Wunsch und seine ganze Sehnsucht.  
Selbst der Anblick eines kleinen Jungen, der unter einem viel zu großen Regenschirm und mit bunten Gummistiefeln an den Füßen an der Hand seiner Mutter am Laden vorüber spazierte, konnte ihn nicht aufmuntern. Als der Kleine sich jedoch los riss und seine vorwitzige kleine Nase an der regennassen Fensterscheibe platt drückte, stieg für einen kurzen Augenblick ein Gefühl von Hoffnung in ihm auf. Doch die zerplatzte in dem Moment wie eine Seifenblase, in dem der Junge von seiner Mutter erbarmungslos weiter gezogen wurde.
„Meine Güte, was ist das heute nur für ein Sauwetter da draußen!“, schimpfte die junge Frau beim Betreten des Second-Hand-Ladens.
„Das stimmt wohl“, erwiderte die Besitzerin, „es regnet wirklich schon den ganzen Tag.“
Die junge Frau entnahm ihrer Tüte ein paar Kleidungsstücke.
„Würden Sie die für mich verkaufen?“, fragte sie.
Nachdem die beiden alles Geschäftliche geregelt hatten, verließ sie das Geschäft wieder. Ding-Dong!
Doch dann sah Teddy, dass sie auf den Stufen stoppte, sich zu ihm umdrehte und die Tür erneut öffnete. Ding-Dong!
„Sagen Sie, der Teddy dort in ihrem Schaufenster, was kostet der?“
Teddys Herz machte einen kleinen Hopser! Das war das erste Mal, dass sich jemand danach erkundigte.
„Der?“, und die Stimme der Frau klang abwertend. „Den wollte ich eigentlich gar nicht annehmen, so zerzaust, wie der ausschaut. Aber ich hab halt ein gutes Herz und die ältere Dame, die ihn hier abgegeben hat, kann jeden Cent gut gebrauchen. Also, wenn Ihnen 5 Euro nicht zu viel sind, gehört er Ihnen.“
„Abgemacht! Der Kleine erinnert mich unheimlich an meinen Teddy, den ich als Kind immer bei mir hatte und mit dem ich so manches Abenteuer erlebt habe. Es ist vielleicht verrückt, aber ich nehme ihn mit.“
Während die junge Frau in ihrem Portemonnaie nach einem 5-Euro-Schein kramte, holte die Ladenbesitzerin Teddy aus dem Schaufenster.
Träumte er, oder passierte das gerade wirklich?
Als er bald darauf auf dem Beifahrersitz des alten Pkw saß, wusste er, dass seine Gebete erhört worden waren.
„Anschnallen muss ich dich wohl nicht, oder doch? Nein, ich glaub nicht. – Übrigens: Ich bin Franziska, hab mich dir noch gar nicht vorgestellt. Und du? Wie ist dein Name? Hm, sag, wärst du einverstanden, wenn ich dich Träumerle nenne? So hieß nämlich mein Teddy früher.“
Natürlich war Teddy einverstanden. Sehr sogar! Endlich hatte auch er einen Namen und hieß nicht immer bloß Teddy.
Franziska steuerte den Wagen sicher durch die dunklen Straßen, bis sie das Fahrzeug stoppte.
„So, wir sind angekommen. Hier wohnst du ab heute. Ich bin sehr gespannt, ob es dir in meiner kleinen Wohnung gefällt.“
Franziska setzte Träumerle in eine Ecke ihres Sofas.
„Ich glaub, das ist ein guter Platz für dich!“
Für Träumerle war der Ort der schönste, den es auf der ganzen Welt für ihn geben konnte.  
Als es an der Wohnungstür schellte, sprang Franziska auf: „Das wird Paula sein. Sie wohnt nebenan und ist eine gute Freundin von mir.“
Als Paula das Wohnzimmer betrat, musste Träumerle sich das Lachen verkneifen. Franziskas Freundin hatte ihre Haare so hoch aufgetürmt, dass der Dutt auf ihrem Kopf schwebte, wie ein Adler über seinem Adlerhorst. Träumerle konnte sich das Kichern einfach nicht verkneifen. Aber nur ganz leise, damit es die beiden nicht hören konnten.
Bevor Paula nach dem Teddy greifen konnte, war Franziska zur Stelle: „Halt! Ich muss euch doch erst miteinander bekannt machen. Also das ist Träumerle, mein neuer Mitbewohner. Und das ist Paula, meine Nachbarin.“
Paula tippte sich an die Stirn: „Du hast dir einen Teddy gekauft?“
„Ja, hab ich. Er erinnerte mich an meinen kleinen Bären aus Kindertagen und gleich fühlte ich mich so unbekümmert wie damals und sofort musste ich an meine Familie denken. Weißt du, Oma und Opa waren damals für mich schon ziemlich alt. Aber Oma kochte das beste Essen auf der ganzen Welt und meine Eltern waren mein Fels in der Brandung, wenn ich nach einem jugendlichen Höhenflug mal wieder hart auf dem Boden der Tatsachen landete.“
Unverständnis stand Paula ins Gesicht geschrieben: „Alles okay mit dir?“, fragte sie scheinbar besorgt.
„Ich mach mir halt Gedanken, weißt du. Wir sind doch jetzt in einem Alter, in dem wir unsere eigenen Familien gründen könnten und je mehr ich mich mit dem Thema beschäftige, desto unbegreiflicher wird es für mich, wie selbstverständlich für mich als Kind eine intakte Familie war. Aber heute weiß ich, dass es eben nicht immer so ist.“
„Also irgendwas ist heute mit dir passiert“, meinte Paula. „Du wirst doch nicht krank?“
„Nein, ich fühl mich gut, bin kerngesund. Es liegt eindeutig an Träumerle. Durch ihn wurde mir irgendwie bewusst, dass wir, ob wir es nun wollen oder nicht, das Ergebnis einer ziemlich langen Familiengeschichte sind. Als Kind fand ich es total öde, wenn die Älteren von meinen Vorfahren erzählten, doch inzwischen finde ich es faszinierend, zu erfahren, wie sie ihre Leben mit allen Höhen und Tiefen gemeistert haben.“
Paula stand auf. „Franzi, du brauchst dringend einen Schnaps und dann mach bitte die Glotze an. Ich bin nicht hier, um mit dir über unsere Vorfahren oder über Teddys zu philosophieren, sondern, um mit dir einen Film anzuschauen.“
Paula war wirklich eine gute Freundin, doch mit ernsteren Themen musste man ihr einfach nicht kommen. Deshalb holte Franziska wortlos eine Flasche Wasser, stellte Chips und Salzstangen auf den Tisch und den Fernseher an. Mit einer Hand angelte sie sich Träumerle, setzte ihn auf ihren Schoß und griff mit der anderen in die Schale mit den Chips.
Träumerle kuschelte sich so nah an seinen neuen Herzensmenschen heran, wie es ihm eben möglich war.
Er war angekommen – in seinem kleinen Paradies auf Erden!

© Martina Pfannenschmidt, 2019


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10 Kommentare:

  1. Gefällt mir deine Geschichte und diesmal ganz wenig Philosophie, aber gute Gedanken. Wir sind das Produkt einer langen Reihe von Vorfahren, die alle ein wenig in uns hinterlassen haben. Fröhliche Sonntagsgrüße, Lore

    Warum hast du meinen Namen nicht verlinkt?

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    1. Liebe Lore, jetzt ist auch deine Geschichte verlinkt - sie war halt heut früh noch nicht in deinem Blog zu finden. :-) - Dank dir für den Besuch und den Kommentar. LG Martina

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  2. Tja ... es gibt sehr liebe, nette Menschen, mit denen man lachen und herumalbern kann - aber für ernsthafte Gespräche haben sie keinen Sinn ...
    Wie gut, dass der Teddy wieder ein Zuhause gefunden hat!

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    1. Hallo Christine! Ich freue mich, dass du mein Bloghaus besucht hast und auch über deinen Kommentar! - LG Martina

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  3. Liebe Martina,
    wie gut, dass sich die beiden gefunden haben, denn das tut beiden sehr gut! Eine wunderschöne Geschichte hast du geschrieben!
    Herzliche Grüße
    Regina

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    1. Danke dir! - Vielleicht hab ich beim Schreiben der Geschichte so ein ganz kleines bisschen an meinen Teddy aus Kindertagen gedacht. :-) - LG Martina

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  4. Liebe Martina, ich erinnere mich sehr gut an "Klümpchen für die Seele", war gern dort auf Besuch.
    Das Schreibtrio wieder an den Tasten zu Reizwörtergeschichten, da freue ich mich mit.
    Habe Deine Geschichte vom Träumerle so gern gelesen und passt gerade mal wieder.-
    Vor einigen Tagen hatten wir bei Seelenfarben über unsere Kuscheltiere geschrieben, ich dachte nicht, dass es viele Erwachsene gibt, die noch ein Herz für diese kleinen Seelentröster haben.
    Ein bisschen Kindheit im Herzen bewahren..., Deine Geschichte ist ein Träumchen meine liebe Martina.Danke!
    Gruß Helga

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    1. Liebe Helga, ganz lieben Dank für deinen Kommentar und dein Lob für meine Geschichte. - Ja, mein Teddy war auch mein Seelentröster. Schon lange begleitet er mich nicht mehr. Schade eigentlich. - Mein 'inneres Kind' würde sich ganz sicher auch heute noch daran erfreuen. :-)
      Ganz liebe Grüße hin zu dir!
      Martina

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  5. hach wie schön
    jaa.. sich ein wenig Kindheit im Herzen zu behalten
    das ist wichtig
    und manchmal braucht es eine Erinnerung daran ..
    ich hatte früher zwar nie einen Teddy sondern Puppen
    aber jetzt um so mehr ;)

    liebe Grüße
    Rosi

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    1. Hallo, liebe Rosi, wie schön, dass du einen Kommentar hinterlassen hast.
      Puppen hatte ich früher auch, aber die habe ich 'anders' geliebt, als den Teddy! ;-)
      Meine Lieblingspuppe hieß Monika. Sie hatte blonde lange Haare, die ich kämmen konnte. Von daher war mein erster Berufswunsch: Friseuse. :-) - Der hat sich dann aber nicht erfüllt, denn danach stand ziemlich schnell fest, dass ich für die 'Schreibmaschine' geboren wurde. :-)
      LG und Danke!
      Martina

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