Mittwoch, 31. Juli 2019

Wir sind nicht unsere Gedanken

Nicole öffnete die Haustür, warf den Autoschlüssel in das kleine Körbchen, das auf der Ablage unter dem Spiegel stand, feuerte ihre Schuhe in die Ecke und stapfte Richtung Wohnzimmer.
Mit einem Seufzer und den Worten: „Meine Güte, bin ich platt!“, ließ sie sich auf den nächstbesten Sessel fallen.
Jens sah seine Frau an und meinte mitleidsvoll: „Das macht bestimmt die Hitze. Die setzt in diesen Tagen vielen Menschen zu.“
„Mag sein, aber ich vermute, dass mir Katja mehr zugesetzt hat, als die Hitze!“
„Ach ja, hab ich ganz vergessen. Du hast dich ja mit deiner Freundin getroffen. Wo hab ich nur wieder meine Gedanken?“
Dabei grinste er breit.
„Ja, wo hast du nur wieder deine Gedanken“, frotzelte seine Angetraute, „wie immer bei der Börse oder anderen Zahlen, nur nicht bei mir.“ Dabei zog sie eine Schnute.
Jens legte seine Zeitschrift beiseite: „Und, was hat sie von sich gegeben, deine beste Freundin?“
„Ach, frag nicht. Irgendwie ist es immer dasselbe mit ihr. Sie sitzt auf ihren Eiern wie eine Ente und brütet und brütet, anstatt einmal aufzustehen, um einen anderen Blickwinkel auf ihre Probleme zu bekommen.“
„Ach, das alte Thema. Aber du gibst nicht auf, oder?“
„Nein, so schnell gebe ich nicht auf. Auch wenn sie zischt und um sich hackt, wie eine Ente es tut, wenn man sich ihren Eiern zu sehr nähert.“
„Du mit deinen Vergleichen!“
„Aber es trifft doch den Kern, oder nicht?“
Jens nickte.
„Weißt du, sie hört nicht auf, die alten Wunden wieder aufzureißen. Ihre quasselnde Stimme im Kopf hört einfach nicht auf, ihr Gedanken einzureden, die ihr nicht gut tun.“
„Und was denkst du? Woher rühren die?“
„Ich kenne Katja ja schon lange und vermute, dass der Grundstein für ihre Selbstzweifel in ihrer Kindheit zu finden ist.“
„Das ist durchaus möglich. Wie oft sagen uns unsere Eltern, was wir zu tun und zu lassen haben.“
„Und übergangslos machen die Lehrer damit weiter“, warf Nicole ein,
„und irgendwann können wir unsere eigenen Gedanken nicht mehr von denen unterscheiden, die uns eingeredet wurden und so denken wir ständig, nicht gut genug zu sein oder nicht genug zu haben.“
Simba, der schwarze Kater der Familie, kam ins Zimmer geschlichen und legte sich schnurrend vor Nicoles Füße.
„Du hast es gut“, meinte sie, „du kennst weder Selbstzweifel, noch vergleichst du dich mit anderen Katern.“
Jens stimmte seiner Frau zu: „Wie wahr! Sich ständig mit anderen zu vergleichen, macht uns letztendlich nicht nur traurig, sondern vielleicht sogar krank.“
„Was denkst du“, fragte Nicole, „ob Simba auch Gedanken kennt?“
„Keine Ahnung“, erwiderte ihr Mann, „ich glaube, wir Menschen denken bis zu 80.000 Gedanken pro Tag.“
„Das ist doch irre, oder?“
„Ja, ist es!“
„Weißt du, ich denke oft, wie viel besser Katja sich fühlen würde, wenn sie endlich ihre destruktiven Gedanken loslassen würde. Sie erkennt gar nicht, wie sehr sie ihr schaden. Sie klammert sich daran fest, wie eine Ertrinkende an ihrem Rettungsring. Dabei sind wir doch gar nicht unsere Gedanken.“
„Nein, natürlich nicht. Aber da müssen wir uns wohl fragen, was wir ohne unsere Gedanken sind. Wären wir überhaupt?“
„Na klar, wären wir! Wir sind letztendlich das, was die Gedanken beobachten kann! – Aber Katja beobachtet oder kontrolliert ihre Gedanken nicht, sondern sie lässt sich von ihren Gedanken kontrollieren. Sie glaubt, was sie ihr einreden.“
Nach einer Weile sagte Jens: „Und sie erkennt nicht, ob es die Wahrheit ist!“
„Genau so ist es. Sie ist sozusagen die Sklavin ihrer Gedanken.“
„Wie furchtbar!“
„Finde ich auch“, erwiderte Nicole betrübt, „aber sie verharrt in ihren alten Gedankenmustern, erkennt nicht, dass sie die Gedanken anderer zu ihren gemacht hat. Sie ist wie eine Gefangene ihrer eigenen Gedanken.“
„Sie müsste erkennen“, meinte Jens, „dass wir nicht Gedanken, sondern Bewusstsein sind, nicht wahr?“
„Genau das versuche ich schon sehr lange, ihr begreiflich zu machen. Ich habe ihr gesagt, sie solle sich vorstellen, dass sie das Meer ist und die Gedanken sind nur die Wolken, die sich darin spiegeln.“
„Ich sag ja, du und deine Vergleiche“, lachte Jens, „aber der ist echt gut. Denn das Meer interessiert nicht, ob der Himmel blau ist oder ob weiße oder dunkle Wolken sich in ihm spiegeln.“
„Genau! Die Oberfläche verändert sich zwar, denn dunkle Wolken wühlen das Meer auf und ein blauer Himmel schenkt dem Meer eine blaue Farbe, aber in der Tiefe bleibt es davon unberührt.“
„Weil das Meer eben das Meer ist und nicht die dunkle Regenwolke am Himmel!“
Nicole schmeichelte ihrem Mann: „Ach Schatz, du bist so klug!“
„Bin ich, denn schau: Der Wind spielt ja auch noch eine Rolle. Wenn er aufkommt, ziehen die dunklen Wolken weiter. Und wenn wir nun wieder zu den Gedanken kommen, stellen wir fest, dass sie kommen und auch wieder gehen, wenn wir ihnen keine Bedeutung beimessen.“
„Weißt du“, schmunzelte Nicole, weil sie schon wieder einen Vergleich bringen wollte, „beim nächsten Treffen sage ich Katja, dass es mit den Gedanken ist, wie mit einem Radiosender. Den stellt sie doch auch um, wenn ihr nicht gefällt, was dort läuft.“
„Ach, mein Schatz, du und deine Vergleiche. Ihr seid echt mit Geld nicht zu bezahlen!“

© Martina Pfannenschmidt, 2019

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