Tanja schaute auf ihre Armbanduhr. Noch etwa 10 Minuten, dann
würde der Bus um die Ecke biegen, in dem sich ihr Großer befand.
Sie war schon gespannt darauf, mit welchen Erlebnissen er heute
aus der Schule heim kommen würde.
Vom Küchenfenster aus sah sie, dass sich der Bus näherte. Luan
stieg aus und Tanja sah seinen hängenden Schultern an, dass der Tag für ihn wohl
nicht so erfolgreich verlaufen war.
„Hi, Luan!“, rief sie ihm zu, als er sich dem Haus näherte.
„Hi, Ma!“
„Na, alles gut gelaufen?“
„Gelaufen! Gutes Stichwort. Scheiße gelaufen ist es. Und zwar so
richtig! Ich war mal wieder langsam, wie eine Schnecke!“
„Oh je! Du meinst bestimmt den 100-Meter-Lauf. Waren die anderen
schneller, als du?“
„Klar, waren sie schneller. Besonders Julian. Ich bin und bleibe
eben eine Schnecke und alle sehen es und lachen mich deshalb aus. Das ist echt voll
gemein!“
Diese Aussage tat auch ihr als Mutter weh.
„Schau dir nur die verrückten Spatzen an“, meinte Mama in diesem
Moment und zwar nicht, um vom Thema abzulenken, sondern weil ihr Blick gerade
dorthin fiel. „Papa wird schimpfen, wenn er nach Hause kommt und sieht, dass
die kleinen Rabauken sich an dem Rasensamen bedienen, den er gestern ausgesät
hat.“
Luan schaute ebenfalls dort hin. Ein kleines Lächeln huschte
über sein Gesicht, als er die Federknäuel beim Mittagstisch sah.
„Schau Luan, dort über die Steine krabbelt eine
Weinbergschnecke.“
„Na, toll! Und was willst du mir jetzt damit sagen? Dass es
stimmt, dass ich genau so langsam bin, wie sie?“
„Nein, das will ich dir gewiss nicht sagen. Aber ich frage mich
gerade, ob sich diese Schnecke jemals mit einem Regenwurm, einem Maulwurf oder
gar einem Tiger vergleichen würde.“
„Hä?“
„Na schau, genau das machst du! Du weißt, dass Julian ein begnadeter
Läufer ist. Er ist im übertragenen Sinn also der Tiger. Und du denkst, du musst
auch ein Tiger sein. Aber so bist du nicht gedacht. Du bist vielleicht eine
Schnecke. Vielleicht bist du aber auch ein Fisch und dein Element ist das
Wasser. Was ist schlecht daran? Die Schnecke dort auf den Steinen wird niemals
unglücklich sein, weil sie denkt, nicht schnell genug zu sein. Sie ist eine
Schnecke und langsam - und gut ist.“
„Ich will aber keine Schnecke sein! Ich will auch ein Tiger
sein!“, schmollte Luan.
Tanja konnte sich gut in ihren Sohn hinein versetzen, doch sie
wollte ihm begreiflich machen, dass es überhaupt nichts bringt, sich mit
anderen zu vergleichen. Deshalb sagte sie: „Weißt du, genau dieses Vergleichen
mit anderen ist es, das uns traurig und unzufrieden macht. Wir sind, wie wir
sind und wer wir sind, und so, wie wir sind, sind wir gut und genau richtig!“
„Das sagt sich so leicht, Ma! - Aber egal, jetzt habe ich erst
einmal Hunger.“
„Na dann komm. Das Essen ist fertig. - Aber weißt du, was mir
gerade in den Sinn kommt? Ich glaube, du bist weder eine Schnecke, noch ein
Fisch. Du bist ein Bär!“
„Ein Bär?“
Mama lachte: „Na, bei dem Bärenhunger, den du immer hast.“
Jetzt musste auch Luan lachen und bald darauf ließen sich die
beiden das Essen schmecken.
Als Luan längst in seinem Zimmer verschwunden war, um seine
Hausarbeiten zu erledigen, dachte seine Mutter noch eine Weile über das Gespräch
mit ihrem Sohn nach und sie fragte sich, wieso wir Menschen oft nicht erkennen,
dass es okay ist, dass wir unterschiedlich sind?
Kein Tier vergleicht sich mit einem anderen und auch kein Baum
käme auf diese Idee. Keine Eiche fühlt sich zu dick und wäre lieber eine
schlanke Tanne und kein Gänseblümchen fragt sich, warum es keine Rose geworden ist.
Nur wir Menschen machen uns das Leben schwer, weil wir nicht annehmen können,
was und wer und wie wir sind.
Sie selbst war auch schon oft in diese Falle getappt. Und sie
und ihr Sohn waren sicher nicht die einzigen Menschen auf der Welt, denen das
passiert. Das kennen wohl alle irgendwie. Selbst die, auf die wir neidisch
schauen. Auch sie kennen wiederum Menschen, denen es vermeintlich besser geht
oder die etwas noch besser können, als sie selbst.
Tanja ging durch den Kopf, dass unsere Gesellschaft sehr
erfolgs- und leistungsorientiert ist und man sich oft minderwertig fühlt, wenn
man einer - von wem auch immer bestimmten - Norm nicht entspricht.
Doch wenn wir ganz ehrlich mit uns selbst sind, erkennen wir,
dass es oft gar nicht die anderen sind, die mit einem Finger auf uns zeigen,
sondern wir selbst. Wir suchen bei uns nach vermeintlichen Fehlern, nur um
etwas zu finden, dass wir an uns bemängeln können. Und dadurch, dass wir uns
selbst klein machen, fühlen wir uns minderwertig.
Tanja wurde ebenso bewusst, dass ihr Sohn noch seinen Platz im
Leben sucht. Er wusste noch nicht, wo er steht. Vielleicht hört dieses Suchen
nach unserem Platz in dieser Welt aber auch niemals auf. Vor allem dann nicht,
wenn es uns nicht gelingt, mit einem liebevollen Blick auf uns zu schauen.
Doch wer sollte es besser hinbekommen, unser Leben zu leben, als
wir selbst? Niemand anderer lebt unser Leben. Deshalb sollten wir uns mit
Verständnis und Mitgefühl begegnen und endlich Frieden mit unserem Inneren
schließen und keinen Krieg mit und gegen uns selbst führen.
Vielleicht ist es auch so, dass wir uns gar nicht deshalb
schlecht fühlen, weil wir etwas nicht können, sondern deshalb, weil wir uns so,
wie wir sind, nicht annehmen können.
Tanja nahm sich fest vor, ihren Sohn dazu anzuleiten, sich
selbst zu lieben, um ihm damit letztendlich die Kraft zu geben, er selbst zu
sein.
© Martina Pfannenschmidt, 2019
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