Montag, 10. Juni 2019

Nur ich und meine Gedanken!

Ich sitze in einem Strandkorb, spüre die Sonne auf meiner Haut, den warmen, weißen Sand unter meinen Füßen und lese ein Buch. – Stimmt gar nicht. Im Moment jedenfalls nicht, weil ich damit beschäftigt bin, die Menschen zu beobachten. Mein Buch liegt neben mir und wartet darauf, weiter gelesen zu werden.
Ich wurde durch das Quengeln eines kleinen Jungen, der mit seinen Eltern auf einer Decke dicht am Wasser liegt, abgelenkt. Er möchte unbedingt noch einmal ins Meer, doch seine Mutter verweigert es ihm. Verständlich, denn er zittert am ganzen Körper, kommt gerade aus dem kühlen Nass.
Meine Gedanken gehen zurück in meine Kindheit. Ich war, wie dieser Junge. Konnte nicht genug bekommen vom Baden. Auch meine Mutter sagte oft: „Nein, jetzt nicht, deine Lippen sind ja schon ganz blau!“ Doch ich wurde nicht müde, ihr zu erklären, dass mir gar nicht kalt ist.
Natürlich ließ sich meine Mutter nicht darauf ein, sondern lenkte mich ab. Sie schlug vor, mir etwas vor zu lesen. Dabei wurde ich in ein dickes Handtuch eingewickelt, um wieder warm zu werden. 
Oder wir gingen am Strand entlang, Muscheln und Steine sammeln. Ich weiß noch, dass wir beide einen Sonnenbrand an den Waden hatten, weil wir zu lange im Sand gehockt hatten, um die schönsten Exemplare zu finden.
Ich kann meinen Blick nicht von der Familie wenden. Bin neugierig, wie die Eltern die Situation lösen. In der Tat, ein paar Minuten später ist der Junge still. Er sitzt neben seinen Eltern auf der Decke. In der Hand ein Smartphone. Kopfhörer in den Ohren. So regelt man das heute. 
In der heutigen Zeit wäre mir der Sonnenbrand wohl erspart geblieben, weil ich unter einem Sonnenschirm hockend über ein Display gewischt hätte.
Wieder bin ich gedanklich in meiner Kindheit, wo sich abends vor den Telefonzellen lange Schlangen bildeten, weil man seine Lieben zuhause anrufen wollte. Man fasste sich kurz, weil zum einen alle Umstehenden das Gespräch mithörten, aber auch, weil das Telefonieren recht teuer war.
Und heute? Kaum sind wir am Urlaubsort angekommen, rufen wir unsere Familie nicht nur sofort an, nein wir bringen auch erste Fotos zu ihnen auf den Weg: Vom Hotel, vom Zimmer, vom Pool, vom Strand. Wir sind mit unseren Augen ständig auf der Suche nach einem grandiosen Motiv. Schließlich soll die Welt sehen, wo wir uns gerade aufhalten, was wir gerade treiben und vor allen Dingen, was wir an kulinarischen Köstlichkeiten und Drinks zu uns nehmen.
Hätten wir uns das vor 20 Jahren vorstellen können, dass wir Fotos von unserem Essen machen und es der Welt zeigen? Ich glaube nicht. Wir hätten es wohl für unmöglich gehalten.
Sehen wir die Schönheit unseres Urlaubsortes eigentlich nur noch nach dem Maßstab, ob es bei anderen gut ankommt? Was steckt dahinter? Das Bedürfnis, die anderen an unserem Leben teilhaben zu lassen, oder spielt der Faktor Neid dabei eine nicht unerhebliche Rolle? Nehmen wir die Schönheit unseres Urlaubsortes wirklich noch wahr und auf - nur für uns?
Früher war es normal, mehrere Bücher mit in den Urlaub zu nehmen. Und die las man auch durch. Liest man heute überhaupt noch oder ist man mehr damit beschäftigt, seine Freunde und die Familie über seinen Urlaub zu unterrichten?
Man ist natürlich auch damit beschäftigt, zu schauen, was die anderen so treiben. Die stellen nämlich auch Fotos ein und sind darauf bedacht, uns zu übertrumpfen. Ist das nicht ein Wahnsinn? 
Es kommt mir so vor, als würde ein regelrechter Wettkampf ausgetragen. Macht man im Urlaub überhaupt noch Fotos für sich selbst?
Früher hat man nach dem Urlaub seinen Film zum Entwickeln gebracht und konnte es kaum erwarten, die Bilder abzuholen. Man lud seine Lieben ein, um in einer gemütlichen Runde Urlaubsbilder zu betrachten und dabei Erinnerungen aufleben zu lassen. Dadurch reflektierte man diese wertvolle Zeit noch einmal für sich.
Das fällt heute komplett weg, denn alle werden ja schon während des Urlaubs über alles informiert.
Ich sitze hier, mein Buch neben mir, ohne jegliche Technik. Natürlich besitze ich ein Handy, doch ich habe es bewusst zuhause gelassen. Ganz nach dem Motto: Handy aus, Augen auf!
So ein Urlaub bietet doch eine hervorragende Gelegenheit, seinen Gedanken nachzuhängen; sich mit sich selbst und seinem Weg zu beschäftigen. Wo stehe ich? Wo möchte ich hin? Wo sehe ich mich in 5 Jahren oder in 10?
Während das Meer unentwegt seine Wellen zum Strand befördert und mich die Sonne an meiner Nase kitzelt, kann ich tiefer gehende Fragen wunderbar reflektieren. Kein Stress, kein Zeitdruck, keine Termine. – Nur ich und meine Gedanken!

© Martina Pfannenschmidt, 2019