„Ich will doch gar nichts Großartiges! Eigentlich möchte
ich nur ein glückliches Leben führen, wie es so viele andere auch tun!“
Dieser Wunsch kam von Annette, die neben ihrer Freundin
auf deren Sofa saß und in der Hand ein Glas mit Sekt hielt.
„Und wer oder was hindern dich daran, glücklich zu sein?“,
fragte Marion und schlug dabei lässig die Beine übereinander.
„Ach, ich weiß auch nicht, die Umstände halt. Irgendwie
hatte ich mir das Leben mit Mann und Kindern einfacher vorgestellt. Ich habe
das Gefühl, dass ich immer nur für andere da sein muss und keine freie Minute
für mich habe.“
Zielsicher griff sie dabei nach einer Praline, die in
einer Schale vor ihr stand und schob sie genussvoll in ihren Mund.
„Außer jetzt gerade in diesem Moment“, warf Marion
schmunzelnd ein und stieß mit ihrem Glas an das ihrer Freundin. „Prost, meine
Liebe! Auf das Leben und das Glück!“
„Das sagt sich so einfach“, nuschelte Annette mit
halb vollem Mund. „Du trägst in deinem Leben ja auch keine Verantwortung für
andere. Du hast es richtig gemacht und bist allein geblieben.“
Marion schluckte. Dieses Thema war sozusagen ihre
Achillesferse. An der Stelle war sie verwundbar, weshalb sie zunächst nichts
darauf erwiderte, doch dann sagte sie: „Du kennst mich jetzt schon so viele
Jahre und müsstest es eigentlich besser wissen. Du weißt genau, dass ich mir
wie du eine Familie gewünscht habe. Doch das Leben entschied anders und nahm
auf meine Planung keine Rücksicht. Es gibt Momente in meinem Leben, in denen
ich eine eigene Familie schmerzvoll vermisse. Dennoch stehe ich mir nicht
selbst im Weg und lass mich durch die Umstände nicht davon abhalten, glücklich
zu sein und mein Leben zu leben.“
„Entschuldige! Ich hab es nicht so gemeint und sicher hast
du recht mit dem, was du sagst“, entgegnete Annette. „Ich gebe es ja zu, dass
ich mir das Leben oft selbst schwer mache, weil ich mir einfach zu viele
Gedanken mache.“
„Das ist genau der Punkt!“, hakte Marion nach und leerte
ihr Sektglas, bevor sie fortfuhr: „Und zwar nicht nur um dich, sondern um alle
Menschen um dich herum. Du belastest dich noch zusätzlich mit den Sorgen,
Schuldgefühlen und Zweifeln aller anderen. Kein Wunder, wenn du dich
unglücklich fühlst.“
„So bin ich halt!“ Wieder griff Annette in die Schale mit
den Pralinen.
„Ja, so bist du. Und du bist gut so, wie du bist. Doch
wenn du selber das Gefühl hast, nicht glücklich zu sein, solltest du etwas
ändern.“
„Und was, bitte?“, fragte Annette, bevor sie sich die
Praline in den Mund schob.
Marion dachte nach: „Du hast doch
schon als Schülerin gerne Geschichten geschrieben. Wolltest sogar eine berühmte
Schriftstellerin werden. Was ist denn aus dem Wunsch geworden?“
Sie wartete die Antwort ihrer Freundin nicht ab: „Ich kann
es dir sagen. Der Zeitpunkt war nie richtig. Immer gab es andere Dinge oder
Menschen, die wichtiger waren, als du und dein Traum, nicht wahr.“
„Ja, vielleicht hast du recht, aber …“
„… nichts, aber“, fiel Marion ihr harsch ins Wort, „du
findest immer 1000 Gründe. Doch weißt du, was manche Menschen von anderen unterscheidet?
Sie warten nicht, sondern fangen einfach an. Ganz nach dem Motto: Nicht
quatschen, tun!“
„Du hast gut reden. Was meinst du, was mir mein Mann
erzählt, wenn ich meinen Job aufgebe und verkünde, dass ich Schriftstellerin
werden möchte.“
„Gut, dann verbuddle deinen Wunsch weiterhin tief in dir.
Sterben müssen wir eines Tages ja sowieso. Auf diese Weise kannst du mit dem
guten Gefühl gehen, zwar nie das gemacht zu haben, was dich glücklich gemacht
hätte, aber so bist du wenigstens jeder Diskussion aus dem Weg gegangen.“
Jetzt war es Marion, die sich, ein bisschen triumphierend,
eine Praline nahm.
„Also jetzt bist du echt zu weit gegangen!“, erboste sich
Annette und Marion wusste, dass sie damit recht hatte.
„Ehrlich, es war nicht so gemeint", sagte sie deshalb, "aber weißt
du: Es ist DEIN Leben. Hör auf, ständig den Erwartungen Anderer entsprechen zu
wollen.“
„Das sagt sich so leicht! Aber ich muss ja auch an die
anderen denken und nicht nur an mich!“, gab Annette noch einmal zu bedenken.
Marion redete sich langsam in Rage: „Du musst dies, du
musst das. Kannst du das Wort nicht einfach aus deinem Wortschatz streichen? Wenn
du etwas musst, wirst du immer das Gefühl haben, nicht frei zu sein. Du musst
nämlich überhaupt nichts.“
Für eine Weile schwiegen beide Frauen. Marion goss Sekt
nach und nippte verlegen an ihrem Glas. War sie zu weit gegangen? Hatte sie
ihre Freundin verletzt? Das wollte sie natürlich nicht. Sie wollte doch nur, dass … Ja,
was genau wollte sie eigentlich? Schließlich erging es ihr oft ähnlich. Auch
sie lebte nicht immer ihren Traum.
„Entschuldige“, wiederholte Marion deshalb, „ich wollte dich
nicht verletzen.“
Sie hielt ihrer Freundin das Glas hin, die daraufhin mit
ihr anstieß. Beide nahmen einen großen Schluck des prickelnden Inhalts und
schon nahm Marion wieder das Wort: „Ich weiß, dass du denkst, du bist nicht gut
genug, um eine erfolgreiche Schriftstellerin zu werden. Doch man kann alles
lernen. Das ist wie mit dem Radfahren. Das haben wir zwei auch nicht gelernt,
indem wir anderen dabei zugeschaut haben. Wir haben es gelernt, weil wir aufs
Rad gestiegen sind und es probiert haben.“
Annettes Mundwinkel zuckten, was
Marion veranlasste, weiter zu sprechen.
„Wie heißt es so schön: Learning by doing! Steig aufs Rad
und fahr einfach los. Sei mutig und unternimm nicht erst dann etwas, wenn du
genau weißt, was zu willst. So wartest du tagein, tagaus und nichts verändert
sich. Nur wenn wir aktiv werden, den ersten Schritt in die Richtung tun, in die
wir möchten, werden wir etwas verändern. Und selbst dann, wenn wir entdecken,
dass es doch nicht unser Weg ist, haben
wir etwas gelernt. Nur so können wir herausfinden, was uns gefällt und was
nicht. Wie denkst du darüber?“
„Ich denke", antwortete Annette versonnen, "ich werde darüber nachdenken."
„Na, das ist doch mal ein Anfang!“
© Martina Pfannenschmidt, 2019