Samstag, 6. April 2019

Bitte wenden!


„Bitte wenden! Wenn möglich, bitte wenden!“
„Du blödes Scheißding“, fluchte Grit, „ich kann hier nicht wenden, hörst du! Ich stehe mitten auf der Autobahn im STAU! Begreifst du das, du dumme Kuh! Du hast mich hierher gelotst und nun steh ich hier! Mann! Das ist doch echt zum Kotzen!“
Der Fahrer des Autos neben ihr sah mitleidvoll zu ihr rüber. Bestimmt hatte er ihren Wutausbruch mitbekommen. Aber das war ihr jetzt auch egal. Außerdem kannte sie den Kerl ja gar nicht. Sollte er doch über sie denken, was er wollte. Mann! Alles lief schief. Wirklich alles!
Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Super! 5 m geschafft. Bei diesem Schneckentempo wäre sie vielleicht erst um Mitternacht zuhause. Sie sollte ihrem Mann eine Nachricht schicken, damit er sich keine Sorgen machte. Sollte sie. Eigentlich. Tat sie aber nicht. Dieser Mistkerl würde sich sowieso keine Sorgen machen. Geschah ihm ganz recht, wenn er mal auf sie warten musste. Sonst war es immer umgekehrt und ER hatte sich noch NIE bei ihr gemeldet.
Obwohl sie es nicht wollte, konnte sie nicht verhindern, dass Tränen aufstiegen. Das fehlte ihr gerade noch. Der Mann im Nebenfahrzeug schaute sowieso schon die ganze Zeit so blöd zu ihr rüber. Der musste nicht sehen, wir beschissen es ihr ging.
Bald kam ein kleiner Rastplatz in ihr Blickfeld. Sie mogelte sich auf die rechte Fahrspur rüber, was den Mann hinter ihr veranlasste, auf die Hupe zu drücken. Sollte er nur. Schwupps war auch er in der Schublade ‚Alle Männer sind doof’.
Es war sehr erstaunlich, aber auf dem Rastplatz stand nur ein einzelner Pkw. Der Fahrer des Wagens saß auf einer in die Jahre gekommenen und verwitterten Holzbank. Auf dem Tisch vor ihm stand ein Becher mit Kaffee, eine Thermoskanne daneben. Brote konnte Grit erkennen und sogar Eier. Na, der hatte Humor. In dieser Situation hier zu sitzen und in aller Seelenruhe sein Abendessen einzunehmen.
Grit stieg aus dem Auto und griff zu ihrer Schachtel mit den Zigaretten. Eigentlich wollte sie schon lange damit aufhören. Aber irgendwie schaffte sie es nicht. Wie so vieles, was sie nicht schaffte. Ihren Mann zu verlassen, zum Beispiel, oder endlich die Arbeit als Arzthelferin aufzugeben und eine Ausbildung zur Heilpraktikerin zu beginnen. Das war einfach alles zu viel. Und jetzt auch noch dieser vermaledeite Stau.
Sie zog gierig an ihrer Zigarette, als der Mann ihr zurief: „Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
Das fehlte ihr gerade noch. Jetzt wurde sie auch noch von einem Fremden auf einem abgelegenen Autobahnrastplatz angepöbelt.
Doch dann schalt sie sich selbst. Er pöbelte ja gar nicht, sondern schien sehr nett zu sein. Außerdem duftete der Kaffee verführerisch. Einen Kaffee zur Zigarette hätte sie schon gerne gehabt. Deshalb überlegte sie nicht lange und sagte: „Sehr gerne! Der Kaffee lockt mich schon.“
„Nur zu. Ich habe noch einen Becher im Auto.“
Bald darauf saß Grit dem Fremden gegenüber.
„Langen Sie nur zu“, bot er ihr an. „Es reicht allemal für zwei. Meine Frau meint es immer gut mit mir. Wissen Sie, ich bin viel unterwegs und Staus gehören zu meinem Leben sozusagen dazu. Doch verhungern und verdursten muss ich dabei niemals, wie Sie sehen!“
Grit war froh, dass er seine Frau erwähnte. Das gab ihr irgendwie ein sicheres Gefühl.
„Und Sie?“, fragte er, als Grit herzhaft in ein Käsebrot biss. „Auch auf dem Weg nach Hause?“
Grit nickte und sagte mit vollem Mund: „Wirklich lecker, das Käsebrot.“
„Ich finde so einen Stau gar nicht so schlimm“, meinte der Mann bald darauf. „Ich fahre dann immer bei nächster Gelegenheit auf einen Rastplatz, esse etwas, hänge meinen Gedanken nach. Was bringt es, sich aufzuregen. Wenn ich ausgebremst werde, nehme ich mir die Zeit für andere Dinge. Ich habe immer ein Buch dabei. So lässt sich die Zeit im Auto sinnvoll verbringen. Oder noch besser sind ja Hörbücher. Dann kann man die Augen schließen und einfach nur zuhören. Wenn es weiter geht, macht sich der Hintermann schon bemerkbar.“
So hatte Grit das noch nie gesehen. Sie regte sich immer furchtbar auf, wenn es nicht voran ging. Aber eigentlich spiegelte die Situation nur ihr Leben wieder. Darin ging es auch nicht voran. Obwohl sie diesen Mann überhaupt nicht kannte, hatte sie das Bedürfnis, ihm von ihrem Leben zu erzählen. Und er hörte ihr zu. Ein Mann der zuhören kann. Sie wusste gar nicht, dass es das gibt. Ihr Mann hörte ihr niemals zu. Außerdem hielt er ihren Plan, eine neue Ausbildung zu beginnen, für eine Schnapsidee. Ja, es war schon so, dass sie dann für eine Weile kein Geld verdienen würde. Doch das wäre alles machbar, wenn sie sich ein bisschen einschränken würden.
Nachdem Sie sich all ihre Sorgen von der Seele geredet hatte, schaute der Mann sie mit warmherzigen Augen an: „Ach wissen Sie, viele kennen wohl Situationen, wie die Ihre. Doch ich denke, jeder Mensch hat ein eigenes, inneres Navigationsgerät. Ich meine unser Herz! Es weiß genau, welcher Weg für uns richtig ist und es möchte uns gerne führen. Doch oftmals hören wir gar nicht hin oder lassen uns von anderen Menschen hineinreden. Wenn Ihr Herz Ihnen sagt, dass Sie neue Wege gehen sollten, sollten Sie darauf hören. Dann ist genau der Weg der richtige für Sie. Was hindert Sie daran, es zu tun? Die Gewohnheit, Angst?“
„Ja, die Angst, es allein und finanziell nicht zu schaffen.“
„Meines Erachtens braucht es nur eins: Ein Wort mit drei Buchstaben“, sagte er verheißungsvoll.
Grit überlegte, was er meinen könnte. Dann wusste sie: „Mut! Sie meinen sicher, Mut!“
„Ja, es braucht auch Mut. Aber besser wäre, wenn Sie Vertrauen hätten. Vertrauen darin, dass alles gut wird, wenn Sie sich von ihrem Herzen führen lassen. Ich meine aber noch ein anderes Wort mit drei Buchstaben: TUN! Wir müssen ins Tun kommen, wenn wir etwas verändern wollen. Und dieses Tun beginnt mit einem ersten Schritt. Dem dann ein zweiter und weitere folgen. Solange Sie den ersten Schritt nicht tun, wird alles so bleiben, wie es ist.“ Nach einer Weile fügte er an: „Und Sie unglücklich!“
Der Mann hatte recht. Natürlich hatte er recht. Sie musste etwas tun und sie wollte etwas tun. Schon lange hatte sie darüber nachgedacht, sich ihren Eltern zu öffnen und ihnen von ihrem Vorhaben zu erzählen. Irgendetwas hatte sie jedoch immer abgehalten. Doch jetzt würde sie es tun. Sie würde ihre Eltern um Hilfe bitten.
„Wir Menschen scheuen uns oft, Entscheidungen zu treffen“, fuhr der Mann fort. „Dabei bedenken wir gar nicht, dass auch eine Entscheidung, die wir nicht treffen, Folgen für uns hat.“
Erst jetzt bemerkte Grit, dass die Autos wieder fuhren. Der Stau hatte sich aufgelöst. Voller Vorfreude auf ihr neues Leben sprang sie von der harten Bank, fiel dem Fremden um den Hals und sagte: „Sie hat der Himmel geschickt! Und 1000 Dank für den Kaffee und das leckere Brot. Sagen Sie Ihrer Frau einen lieben Gruß und dass sie ganz viel Glück hat, dass sie Sie zum Mann hat.“
Grit schwang sich in ihren Kleinwagen, winkte dem Fremden ein letztes Mal zu und setzte ihre Fahrt zielgerichtet fort.

© Martina Pfannenschmidt, 2019