Sonntag, 20. Januar 2019

Kalte Hände (2)


Bertha stand zitternd im Stall. „Mir ist so kalt, mir ist so kalt!“, rief sie, um gleich darauf in ein schallendes Gelächter zu verfallen.
„Hör auf, damit!“, lachte Helene. „Sonst kommt gleich der Bauer und beschwert sich wieder über den Lärm, der aus dem Stall kommt.“
Bertha wurde einfach nicht müde, die Szene nachzuspielen, die sich abgespielt hatte, nachdem der Bauer Helene das erste Mal mit seinen eiskalten Händen gemolken hatte.
Das gemeinsame Erlebnis und auch die stetig nach unten kletternden Temperaturen hatten sie enger zusammen geschweißt. So nah wie möglich lagen sie in der Nacht beieinander und waren richtig gute Freundinnen geworden.
„Hoffentlich kommt dein Bauer nicht so schnell wieder aus dem Krankenhaus heraus“, meinte Bertha in diesem Moment.
„Das ist gemein, was du sagst“, erwiderte Helene. „Man soll anderen nichts Schlechtes wünschen.“
„Du hast natürlich recht. Ich mein ja nur. Es ist viel schöner, seid du hier bist und das hätte ich ehrlich nicht für möglich gehalten.“
„Ist klar. Du dachtest sicher, da kommt so eine dumme Gans, die dir das Wasser nicht reichen kann."
„Dumme Gans!“ Wieder lachte Bertha. „Fängst bestimmt bald das Schnattern an.“
„Du hast gut lachen. Wer hat denn eben geschnattert wie eine Gans: Mir ist so kalt! Mir ist so kalt!“
Und wieder lachten die beiden über ihre kleinen Witzeleien.
Doch immer gingen sie liebevoll miteinander um und so manches Mal führten die zwei tiefgründige Gespräche. Und das ist zwischen einer Kuh und einer Ziege schon etwas ganz Besonderes.
„Du, Helene“, begann Bertha diesmal das Gespräch, „hast du dich auch schon mal gefragt, warum du hier bist? – Also ich meine jetzt nicht hier in diesem Stall, sondern auf der Welt?“
„Na klar! Irgendwann einmal sucht wohl jeder nach den Gründen seiner Existenz.“
Nach einer Weile: „Und hast du eine Antwort für dich gefunden?“
„Weißt du, als ich mir die Frage das erste Mal gestellt habe, habe ich alle Tiere gefragt, die mir in meinem Leben begegneten. Doch die meisten hatten keine Antwort für mich oder zuckten nur mit den Schultern. Und da gingen bei mir alle Alarmglocken an.“
Berthas Kopf schnellte hoch: „Alarmglocken? Wieso das denn?“
„Na schau, seit Tausenden von Jahren leben wir auf dieser Welt und keiner kennt die Antwort. Das ist schon komisch, oder?“
„Das stimmt!“
„Und weil es niemand wusste, habe ich mir halt meinen eigenen Kopf darüber zerbrochen. Möchtest du hören, was dabei heraus gekommen ist?“, fragte Helene.
„Unbedingt!“
„Also, pass auf. Unser Leben ist unser ‚Da sein’. Aber was versteht man unter dem Sinn von etwas? Vielleicht ist es besser, von der Sinnhaftigkeit des Lebens zu sprechen und die Fragen auszuweiten. Nämlich: Was ist die Ursache meines Seins? Warum bin ich da? Was ist das Ziel meines Seins? Was ist ein sinnvolles Leben? Was soll ich tun, wie soll ich mich verhalten?“
„Helene, jetzt schwirrt mir der Kopf nur noch mehr! Ich dachte, ich bekomme eine Antwort. Stattdessen stellst du noch mehr Fragen.“
„Ich habe mir halt noch mehr Fragen gestellt, um ans Ziel zu kommen. Und die größte aller Fragen ist: Gibt es überhaupt einen Sinn des Lebens und wenn ja, welcher ist das?“
„Und? Zu welcher Antwort bist du nun für dich bekommen?“
„Lebensglück und Dienen!“
„Lebensglück und Dienen?“ wiederholte Bertha.
„Lebensglück und Dienen!“, erwiderte Helene. „Für mich geht es darum, sich lebendig zu fühlen und das Leben zu genießen, einfach glücklich zu sein. Glück hängt für mich davon ab,  wie man sein Leben empfindet.“
Bertha nickte zustimmend: „Mein Bauer sagte einmal: Jeder ist seines Glückes Schmied.“
„Siehst du!“, bestätigte Helene. „Glück ist das, was man aus seinem Leben macht. Schau dir die Menschen an. Sie mühen und plagen sich ihr Leben lang und was haben sie davon? Generationen kommen und gehen. Die Erde bleibt davon unbeeindruckt. Sie ist immer noch da. Die Sonne geht auf und wieder unter – immer wieder und immer wieder.“
„Ich denke gerade“, fuhr Bertha nach einiger Zeit fort, „dass die Erde und die Sonne sich sicher nicht nach dem Sinn ihres Daseins fragen.“
„Genau. Sie sind einfach da und tun, was es zu tun gibt, ohne nach dem Sinn zu fragen. Und da kommen wir zu Punkt 2 – nämlich dem Dienen. Sie fühlen sich nicht von Gott getrennt, sondern sie tun ihr Werk, wie es für sie bestimmt ist. – So einfach ist es, den Sinn seines Seins zu erfüllen.“
„Und unser Sinn?“
„Frisches Gras zu fressen – oder Heu. Es uns schmecken zu lassen, um gute Milch zu produzieren. Die Sonne auf der Haut spüren, sich lebendig und glücklich fühlen.“
„Auch dann“, schmunzelte Bertha, „wenn der Bauer uns mit kalten Händen melkt?“
„Ja, ganz besonders dann, denn jetzt kommen wir zu unserem Dienen. Aus unserer Milch machen die Menschen köstliche Dinge. Wir dienen dem Menschen und das ist der Sinn unseres Lebens: Glücklich sein und Milch geben.“
„Das ist großartig!“
„Das finde ich auch!“

© Martina Pfannenschmidt, 2019