Bertha
stand zitternd im Stall. „Mir ist so kalt, mir ist so kalt!“, rief sie, um
gleich darauf in ein schallendes Gelächter zu verfallen.
„Hör
auf, damit!“, lachte Helene. „Sonst kommt gleich der Bauer und beschwert sich wieder
über den Lärm, der aus dem Stall kommt.“
Bertha
wurde einfach nicht müde, die Szene nachzuspielen, die sich abgespielt hatte,
nachdem der Bauer Helene das erste Mal mit seinen eiskalten Händen gemolken
hatte.
Das
gemeinsame Erlebnis und auch die stetig nach unten kletternden Temperaturen
hatten sie enger zusammen geschweißt. So nah wie möglich lagen sie in der Nacht
beieinander und waren richtig gute Freundinnen geworden.
„Hoffentlich
kommt dein Bauer nicht so schnell wieder aus dem Krankenhaus heraus“, meinte
Bertha in diesem Moment.
„Das
ist gemein, was du sagst“, erwiderte Helene. „Man soll anderen nichts
Schlechtes wünschen.“
„Du
hast natürlich recht. Ich mein ja nur. Es ist viel schöner, seid du hier bist
und das hätte ich ehrlich nicht für möglich gehalten.“
„Ist
klar. Du dachtest sicher, da kommt so eine dumme Gans, die dir das Wasser nicht
reichen kann."
„Dumme
Gans!“ Wieder lachte Bertha. „Fängst bestimmt bald das Schnattern an.“
„Du
hast gut lachen. Wer hat denn eben geschnattert wie eine Gans: Mir ist so kalt!
Mir ist so kalt!“
Und
wieder lachten die beiden über ihre kleinen Witzeleien.
Doch
immer gingen sie liebevoll miteinander um und so manches Mal führten die zwei
tiefgründige Gespräche. Und das ist zwischen einer Kuh und einer Ziege schon
etwas ganz Besonderes.
„Du,
Helene“, begann Bertha diesmal das Gespräch, „hast du dich auch schon mal
gefragt, warum du hier bist? – Also ich meine jetzt nicht hier in diesem Stall,
sondern auf der Welt?“
„Na
klar! Irgendwann einmal sucht wohl jeder nach den Gründen seiner Existenz.“
Nach
einer Weile: „Und hast du eine Antwort für dich gefunden?“
„Weißt
du, als ich mir die Frage das erste Mal gestellt habe, habe ich alle Tiere
gefragt, die mir in meinem Leben begegneten. Doch die meisten hatten keine
Antwort für mich oder zuckten nur mit den Schultern. Und da gingen bei mir alle
Alarmglocken an.“
Berthas
Kopf schnellte hoch: „Alarmglocken? Wieso das denn?“
„Na
schau, seit Tausenden von Jahren leben wir auf dieser Welt und keiner kennt die
Antwort. Das ist schon komisch, oder?“
„Das
stimmt!“
„Und
weil es niemand wusste, habe ich mir halt meinen eigenen Kopf darüber
zerbrochen. Möchtest du hören, was dabei heraus gekommen ist?“, fragte Helene.
„Unbedingt!“
„Also,
pass auf. Unser Leben ist unser ‚Da sein’. Aber was versteht man unter dem Sinn
von etwas? Vielleicht ist es besser, von der Sinnhaftigkeit des Lebens zu
sprechen und die Fragen auszuweiten. Nämlich: Was ist die Ursache meines Seins?
Warum bin ich da? Was ist das Ziel meines Seins? Was ist ein sinnvolles Leben?
Was soll ich tun, wie soll ich mich verhalten?“
„Helene,
jetzt schwirrt mir der Kopf nur noch mehr! Ich dachte, ich bekomme eine
Antwort. Stattdessen stellst du noch mehr Fragen.“
„Ich
habe mir halt noch mehr Fragen gestellt, um ans Ziel zu kommen. Und die größte
aller Fragen ist: Gibt es überhaupt einen Sinn des Lebens und wenn ja, welcher
ist das?“
„Und?
Zu welcher Antwort bist du nun für dich bekommen?“
„Lebensglück
und Dienen!“
„Lebensglück
und Dienen?“ wiederholte Bertha.
„Lebensglück
und Dienen!“, erwiderte Helene. „Für mich geht es darum, sich lebendig zu
fühlen und das Leben zu genießen, einfach glücklich zu sein. Glück hängt für
mich davon ab, wie man sein Leben
empfindet.“
Bertha
nickte zustimmend: „Mein Bauer sagte einmal: Jeder ist seines Glückes Schmied.“
„Siehst
du!“, bestätigte Helene. „Glück ist das, was man aus seinem Leben macht. Schau
dir die Menschen an. Sie mühen und plagen sich ihr Leben lang und was haben sie
davon? Generationen kommen und gehen. Die Erde bleibt davon unbeeindruckt. Sie
ist immer noch da. Die Sonne geht auf und wieder unter – immer wieder und immer
wieder.“
„Ich
denke gerade“, fuhr Bertha nach einiger Zeit fort, „dass die Erde und die Sonne
sich sicher nicht nach dem Sinn ihres Daseins fragen.“
„Genau.
Sie sind einfach da und tun, was es zu tun gibt, ohne nach dem Sinn zu fragen.
Und da kommen wir zu Punkt 2 – nämlich dem Dienen. Sie fühlen sich nicht von
Gott getrennt, sondern sie tun ihr Werk, wie es für sie bestimmt ist. – So
einfach ist es, den Sinn seines Seins zu erfüllen.“
„Und
unser Sinn?“
„Frisches
Gras zu fressen – oder Heu. Es uns schmecken zu lassen, um gute Milch zu
produzieren. Die Sonne auf der Haut spüren, sich lebendig und glücklich
fühlen.“
„Auch
dann“, schmunzelte Bertha, „wenn der Bauer uns mit kalten Händen melkt?“
„Ja,
ganz besonders dann, denn jetzt kommen wir zu unserem Dienen. Aus unserer Milch
machen die Menschen köstliche Dinge. Wir dienen dem Menschen und das ist der Sinn
unseres Lebens: Glücklich sein und Milch geben.“
„Das
ist großartig!“
„Das
finde ich auch!“
©
Martina Pfannenschmidt, 2019