Atemlos stimmte Tabea in den Refrain des Liedes ein, das gerade
lautstark aus dem Radio dröhnte. Als es beendet war, stellte sie das Gerät leiser.
Schließlich war sie nicht allein auf der Welt, sondern lebte in einem Mietshaus
– und das seit genau einem Tag. Sie musste sich zuerst noch daran gewöhnen, dass
es einige Regeln gab, die es als Mieterin einzuhalten galt.
Bisher hatte sie bei ihren Eltern gewohnt und gestern nun war
sie mit deren Hilfe und der ihrer Freunde umgezogen. Tabea fühlte sich
pudelwohl. Sie konnte es gar nicht erwarten, das Stadtleben in vollen Zügen zu
genießen.
Solange sie noch in der Ausbildung gewesen war, hatte sie sich
eine eigene Wohnung nicht leisten können. Doch jetzt war alles in trocknen Tüchern.
Sie war offiziell übernommen worden, bekam ein gutes Gehalt und konnte sich
deshalb den Schritt raus aus dem miefigen Einfamilienhaus auf dem Land und hinein
in eine schnuckelige kleine Wohnung in der Stadt leisten.
Puh, heute war es echt heiß, dabei stand die Sonne noch gar
nicht auf ihrem Balkon. Sie war so stolz darauf, einen eigenen kleinen Balkon
zu haben. Zwar bot er einen Blick auf
einen großen Parkplatz und ein angrenzendes Mietshaus, aber das war ihr
schnuppe.
Kurzerhand zog sie T-Shirt und Shorts aus und lief in
Unterwäsche durch die Wohnung.
Eingeräumt war alles, doch sie hatte das Bedürfnis, alles noch
einmal gründlich abzuwischen und durchzusaugen. Sie wollte es einfach schön,
sauber und ordentlich haben.
Als ihre Eltern gestern gefahren waren, hatte ihre Mutter mit den
Tränen gekämpft und auch sie, Tabea, hatte einen Kloß im Hals gehabt. Aber ihre
Erzeuger waren ja nicht aus der Welt. Mit dem Bus war sie in einer knappen
Stunde bei ihnen. Also gab es absolut keinen Grund zur Traurigkeit.
Das war bei der Vormieterin ihrer Wohnung sicher anders. Die ältere
Dame war zu ihrer Tochter gezogen und die wohnte über 500 km entfernt.
Tabea ging kurz auf ihren Balkon, um sich dort umzusehen. Hier
und da galt es, einen schwarzen Spinnweben zu entfernen und auch die Rollläden
wollte sie noch von außen säubern.
Die Seniorin hatte sich für das Balkonfenster und die
angrenzende Tür extra einen elektrischen Rollladenantrieb nachrüsten lassen.
Weil sie ihn in der neuen Wohnung nicht benötigte, hatte sie ihn Tabea
überlassen. Das war echter Luxus!
Sie drückte nur kurz auf ein Knöpfchen, schon fuhr der Rollladen
des Balkonfensters herunter. Bald würde die Sonne herum kommen. Da war es
sowieso besser, wenn er unten war.
Dass sie nur in Unterwäsche auf ihrem Balkon stand, würde gewiss niemanden stören. Außer ihrem Nachbarn, der zu dieser Zeit sowieso
nicht zuhause war, konnte niemand ihren Balkon einsehen. Es sei denn, er benutzte
ein Fernglas.
Ein cooler Typ war das übrigens, ihr Nachbar. Zwei, vielleicht
drei Jahre älter als sie, blond, blauäugig und sehr nett. Zumindest dem
Anschein nach. Tabea hatte bisher wenig Kontakt zu ihm, aber das könnte sich ja
durchaus ändern. Sie hätte nichts dagegen. Schließlich war sie seit einem halben
Jahr Single.
Schnell lief sie in die Küche, holte Eimer und Lappen und begann,
den Rollladen zu reinigen. Anschließend griff sie kurz um die Ecke, um das
Knöpfchen für den Rollladen der Balkontür zu betätigen - flugs war auch dieser
von außen blitzblank.
Und nun galt es, sich abermals den Innenräumen zu widmen … sich
den Innenräumen zu widmen?! Tabea entfuhr ein kurzer Schrei!
„Oh mein Gott!“, rief sie laut aus. „Ich Idiotin! Ich hab mich
ausgesperrt! O nein, dass darf doch nicht wahr sein!“
Wo war sie nur mit ihren Gedanken gewesen?
Während ihr das Ausmaß ihrer Lage nach und nach klar wurde,
schlug sie sich fortwährend mit der flachen Hand gegen die Stirn.
Sie hatte sich nicht nur ausgesperrt, sie stand in Unterwäsche
mit Minni-Mouse-Motiven auf ihrem Balkon. Sie hatte weder ihr Handy in der
Nähe, noch etwas zu essen oder zu trinken, und genau jetzt fielen die ersten
Sonnenstrahlen auf ihren Balkon. Einen Sonnenschirm gab es nicht. Den wollte
sie sich erst noch kaufen. Mist, Mist, Mist!!!
Tränen stiegen in ihre Augen. Sie müsste irgendwie Kontakt zu
ihren Eltern aufnehmen. Die hatten einen Ersatzschlüssel für ihre Wohnung.
Darauf hatte ihre Mutter bestanden.
Wie bescheuert konnte man eigentlich sein? Das wäre der beste Beweis
für ihre Mutter, dass sie, Tabea, wie von ihr prophezeit, eben noch nicht in
der Lage war, alleine zu leben. Aber das war sie. Ganz sicher! Das war sie!
Tabea ließ sich auf einen Stuhl plumpsen, als die Tränen in Sturzbächen
über ihre Wangen liefen. Das war jetzt einfach zu viel für sie.
Der Einzige, der ihr jetzt helfen könnte, wäre ihr Nachbar. Wenn
der auf seinen Balkon käme, könnte sie ihm die Handynummer ihrer Eltern zurufen
und ihn bitten, diese anzurufen. Das war die einzige Lösung, da ihr für den
Einsatz eines Schlüsseldienstes das Geld fehlte.
Einige Zeit später rannen keine Tränen mehr über ihre Wangen,
sondern der Schweiß. Wenn nicht bald Hilfe nahte, würde sie mit einem
Sonnenstich zusammen brechen und müsste einsam und allein auf diesem Balkon
sterben. Sie musste nachdenken. Sie musste dringend nachdenken!
„Du musst nicht perfekt sein, erlaube dir Fehler!“
Diese Worte stammten von ihrer Oma, halfen ihr im Moment aber
nicht weiter. Tabea kramte in ihrem Gehirn, was bei der Hitze eine
Höchstleistung darstellte, bis ihr weitere Oma-Sätze in den Sinn kamen:
„Probleme gilt es zu lösen und nicht, zu ertragen! Für jedes Problem gibt es
eine Lösung. Denk nach!“
Tabea dachte nach. Als Erstes müsste sie sich vor der Sonne
schützen. Also stand sie von ihrem Stuhl auf, stellte ihn auf den Kopf und klemmte
ihn so zwischen Tisch und Geländer ein, dass er eine kleine schattige Höhle
bildete. Dort setzte sie sich hinein, bis … ja, … bis … wann? Bis ihr Nachbar irgendwann
nach Hause kam und sie SOOOO sah!
Wieder waren es Omas Worte, die ihr in den Sinn kamen: „Ändere,
was du kannst und mach das Beste aus dem, was du nicht ändern kannst.“
Sie allein konnte ihre Situation nicht ändern, das war so klar
wie Kloßbrühe. Sie schloss kurz die Augen, um besser nachdenken zu können.
Ob sie laut um Hilfe rufen sollte?
„Denk nach, Tabea, denk nach!“, sprach sie sich selbst Mut zu.
Vielleicht gab es noch eine andere Lösung. Aber welche?
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie Rauchzeichen.
Rauchzeichen? Nein, das war der Qualm einer Zigarette. Ihr Nachbar stand auf
seinem Balkon und rauchte.
Ob es ihr gefiel oder nicht, sie würde auf sich aufmerksam
machen müssen. Aber sie wollte sich zunächst aus ihrer deprimierenden Position
befreien und zumindest so tun, als habe sie die Lage im Griff.
Zu spät! In dem Moment fiel sein Blick auf sie. Es war sooo
peinlich.
„Das ist der coolste Sonnenschutz, den ich je gesehen habe!“,
rief er und konnte sich das anschließende Lachen nicht verkneifen. „Darf ich
fragen, was du da machst? - Oh, schicke Dessous übrigens!“
Nein, peinlicher konnte es für sie nicht mehr werden. Jetzt war
eh alles egal.
Tabea stand auf, schilderte ihre Situation und bat ihn, ihre
Eltern zu verständigen. Doch was machte dieser Typ stattdessen? Er verließ den
Balkon und ging in seine Wohnung zurück.
„He, Du, spinnst Du?“, brüllte
Tabea panisch hinter ihm her. „Komm sofort wieder raus, du Idiot!“
Oh, das hätte sie nicht sagen sollen. Sie befand sich wahrlich
in keiner Situation, in der man den einzigen Menschen, der einem helfen konnte,
verprellte und gegen sich aufbrachte.
„Der Idiot war nur kurz an seinem Kühlschrank und versucht
jetzt, dir eine Coladose zuzuwerfen“, hörte sie eine Minute später. „Kannst du
fangen?“
„Geht so!“, antwortete sie wahrheitsgemäß.
„Also, das solltest du, denn wenn du sie nicht fängst, knallt
sie gegen die Wand. - Gut, eine Abkühlung würde das für dich auch bedeuten.“
Dabei grinste er noch breiter als zuvor.
Dieser Mistkerl machte sich obendrein noch über sie lustig. Das
war echt ne ganz fiese Nummer.
„Also, ich werfe jetzt!“
Tabea war sooo durstig. Sie musste diese Dose fangen und …
geschafft.
Während ihr Nachbar Beifall klatschte, trank sie den Inhalt der
Dose in einem Zug aus.
„Und jetzt rufst du meine Eltern an, ja?“
„Soll ich echt?“, fragte er. „Ich kann mir gut vorstellen, wie
das auf sie wirken muss. Sie werden denken, dass ihre Kleine wohl doch nicht in
der Lage ist, alleine zu leben.“
Er war ein Blödmann, ein Idiot, ein … ihr fielen noch tausend
andere Schimpfwörter für ihn ein, dabei hatte sie ihn vor ein paar Stunden noch
echt nett gefunden.
Da ihr durchaus bewusst war, dass sie auf sein Wohlwollen
angewiesen war, zog sie es vor, zu schweigen und nicht darauf einzugehen.
„Okay“, meinte er ein paar Minuten später, „ich werde dir helfen.
Eigentlich bin ich nämlich ein netter Typ und kein Idiot und das werde ich dir
jetzt auch beweisen.“
Wieder verließ er seinen Balkon. Tabea schüttelte mit dem Kopf.
So etwas Blödes konnte auch wirklich nur ihr passieren! Sie hatte sich so sehr
auf diese Wohnung und ihr eigenständiges Leben gefreut und jetzt das!
Abrupt drehte sie sich um. Jetzt spukte es auch noch in ihrer
Wohnung. Äußerst gemächlich, aber dennoch stetig, hob sich der Rollladen ihrer
Balkontür. Das konnte nicht sein! Sie halluzinierte! Ihr Kopf hatte zu viel Sonne abbekommen.
Doch dann sah sie Füße, Beine, eine kurze Hose, ein T-Shirt und
letztendlich das grinsende Gesicht ihres Nachbarn auf der anderen Seite der
Tür.
„Überraschung!“, rief er, als er ihr die Tür öffnete.
„Aber … wie ist das möglich? Wie bist du in meine Wohnung gekommen?“
Er hielt einen Wohnungsschlüssel hoch. „Na, mit ihm hier!“
Das Grinsen wollte dabei so gar nicht aus seinem Gesicht weichen.
„Aber … wie kommst du an meinen Schlüssel?“
„Deine Mutter hat ihn mir heimlich zugesteckt. Sie meinte, falls
du dich mal ausschließt, wäre ich schneller da, um dir zu helfen, als sie.
Kluge Frau übrigens, deine Frau Mutter!“
Bei diesen Worten grinste er von einem Ohr bis zum anderen und
Tabea wusste nicht, ob sie ihn dafür nun ohrfeigen oder doch lieber umarmen
sollte, denn eines stand fest: Er war ein Idiot - aber ein netter!
© Martina Pfannenschmidt, 2019