Sonntag, 4. November 2018

Himmlische Geschichte


„Renn doch nicht so schnell, Tobi, ich komm ja gar nicht mehr hinterher!“
Nach Luft schnappend blieb Emelie stehen.
„Mensch Mama, du bist echt eine lahme Ente geworden!“, rief ihr Sohn, während er sich kurz zu ihr umdrehte, dann aber doch weiter rannte.
Emelie schmunzelte. Er hatte recht. Sie war wirklich eine lahme Ente geworden. Aber so ist das wohl, wenn man im 8. Monat schwanger ist und ein Baby in seinem Bauch trägt.
Aus den Augenwinkeln heraus sah Emelie eine Parkbank, auf die sie sich setzte, obwohl sie kalt und hart war. Egal, sie brauchte jetzt eine kleine Pause.
Es dauerte gar nicht lange, da kam ihr Großer zu ihr gerannt.
„Du, Mama, haben Engel eigentlich Flügel?“
Emelie lachte kurz auf. Wie kam ihr Sohn nur wieder auf diese Frage?
So, als hätte er ihre Gedanken erraten, fuhr er fort: „Gestern Abend habe ich mir nämlich ein altes Buch angeschaut. Weißt du, das mit den Engelgeschichten. Du hast mir früher immer daraus vorgelesen.“
Emelie nickte. Natürlich erinnerte sie sich daran.
„In dem Buch ist nämlich ein Engel abgebildet“, erzählte Tobi weiter. „Er hat richtige Flügel aus Federn, so wie Vögel sie haben. Denkst du, dass es wirklich so ist?“
„Also, du stellst Fragen. Wie soll ich dir das beantworten? Ich habe doch auch noch keinen Engel gesehen."
Tobi sah zu Boden. Mit einem Fuß scharrte er im Schotter. Dann kickte er einen Kieselstein mit der Fußspitze fort.
In dem Moment geschah etwas Ungewöhnliches. Jemand rief deutlich: „Aua!“
Die beiden sahen sich an, dann um. Es war niemand zu sehen.
„Was war das denn?“, erkundigte sich Tobi.
„Die Frage muss wohl eher lauten: Wer war das denn?“, meinte Mama und sah sich ein bisschen verängstigt um.
„Entschuldigung“, sagte jemand mit leiser Stimme, „ich wollte euch wirklich nicht erschrecken, aber ich habe gerade den Stein abbekommen.“
Völlig verängstigt nahm Emelie ihren Sohn in den Arm. Die andere freie Hand legte sie schützend auf ihren Bauch.
„Ihr müsst euch nicht fürchten“, sprach die Stimme weiter. „Mein Name ist Almatar. Ich bin der Schutzengel des kleinen Babys, das in deinem Bauch wächst, Emelie.“
„Da!“, rief Tobi unvermittelt und zeigte in eine Richtung. „Ich kann den Engel sehen, Mama! Ich kann ihn tatsächlich sehen. Und er hat echte Flügel. Große weiße Federflügel.“
In dem Moment wurden auch Emelie die Augen geöffnet. Sie sah eine große Gestalt in einem weißen Gewand, das so hell war, als sei es aus reinem Licht gewebt. Bald darauf entschwand der Engel ihren Blicken wieder.
„Das war echt krass, oder?“, meinte Tobi nach einer Weile.
„Das war sogar megakrass, würde ich sagen. Man könnte meinen, dir wurde die Frage direkt von höchster Stelle beantwortet.“
„Du, Mama, denkst du, uns glaubt irgendjemand diese Geschichte?“
„Auch das kann ich dir nicht beantworten, Tobi. Vielleicht ja, vielleicht aber auch nein.“
Nachdem beide eine Weile geschwiegen hatten, sagte Tobi mit leuchtenden Augen: „Es gibt sie tatsächlich!"
„Ja, es gibt sie tatsächlich“, wiederholte Emelie, „und sie haben Flügel. Echte, große weiße Flügel.“


Martina Pfannenschmidt, 2018