„Renn
doch nicht so schnell, Tobi, ich komm ja gar nicht mehr hinterher!“
Nach
Luft schnappend blieb Emelie stehen.
„Mensch
Mama, du bist echt eine lahme Ente geworden!“, rief ihr Sohn, während er sich
kurz zu ihr umdrehte, dann aber doch weiter rannte.
Emelie
schmunzelte. Er hatte recht. Sie war wirklich eine lahme Ente geworden. Aber so
ist das wohl, wenn man im 8. Monat schwanger ist und ein Baby in seinem Bauch
trägt.
Aus
den Augenwinkeln heraus sah Emelie eine Parkbank, auf die sie sich setzte,
obwohl sie kalt und hart war. Egal, sie brauchte jetzt eine kleine Pause.
Es
dauerte gar nicht lange, da kam ihr Großer zu ihr gerannt.
„Du,
Mama, haben Engel eigentlich Flügel?“
Emelie
lachte kurz auf. Wie kam ihr Sohn nur wieder auf diese Frage?
So,
als hätte er ihre Gedanken erraten, fuhr er fort: „Gestern Abend habe ich mir
nämlich ein altes Buch angeschaut. Weißt du, das mit den Engelgeschichten. Du
hast mir früher immer daraus vorgelesen.“
Emelie
nickte. Natürlich erinnerte sie sich daran.
„In
dem Buch ist nämlich ein Engel abgebildet“, erzählte Tobi weiter. „Er hat richtige
Flügel aus Federn, so wie Vögel sie haben. Denkst du, dass es wirklich so ist?“
„Also, du
stellst Fragen. Wie soll ich dir das beantworten? Ich habe doch auch noch
keinen Engel gesehen."
Tobi
sah zu Boden. Mit einem Fuß scharrte er im Schotter. Dann kickte er einen
Kieselstein mit der Fußspitze fort.
In
dem Moment geschah etwas Ungewöhnliches. Jemand rief deutlich: „Aua!“
Die
beiden sahen sich an, dann um. Es war niemand zu sehen.
„Was
war das denn?“, erkundigte sich Tobi.
„Die
Frage muss wohl eher lauten: Wer war das denn?“, meinte Mama und sah sich ein
bisschen verängstigt um.
„Entschuldigung“,
sagte jemand mit leiser Stimme, „ich wollte euch wirklich nicht erschrecken,
aber ich habe gerade den Stein abbekommen.“
Völlig
verängstigt nahm Emelie ihren Sohn in den Arm. Die andere freie Hand legte sie
schützend auf ihren Bauch.
„Ihr
müsst euch nicht fürchten“, sprach die Stimme weiter. „Mein Name ist Almatar.
Ich bin der Schutzengel des kleinen Babys, das in deinem Bauch wächst, Emelie.“
„Da!“,
rief Tobi unvermittelt und zeigte in eine Richtung. „Ich kann den Engel sehen,
Mama! Ich kann ihn tatsächlich sehen. Und er hat echte Flügel. Große weiße
Federflügel.“
In
dem Moment wurden auch Emelie die Augen geöffnet. Sie sah eine große Gestalt in
einem weißen Gewand, das so hell war, als sei es aus reinem Licht gewebt. Bald
darauf entschwand der Engel ihren Blicken wieder.
„Das
war echt krass, oder?“, meinte Tobi nach einer Weile.
„Das
war sogar megakrass, würde ich sagen. Man
könnte meinen, dir wurde die Frage direkt von höchster Stelle beantwortet.“
„Du,
Mama, denkst du, uns glaubt irgendjemand diese
Geschichte?“
„Auch
das kann ich dir nicht beantworten, Tobi. Vielleicht ja, vielleicht aber auch
nein.“
Nachdem beide eine Weile geschwiegen hatten, sagte Tobi mit leuchtenden Augen: „Es
gibt sie tatsächlich!"
„Ja, es
gibt sie tatsächlich“, wiederholte Emelie, „und sie haben Flügel. Echte, große weiße Flügel.“
Martina
Pfannenschmidt, 2018