Noch
im Schlafanzug schlurfte Yvonne mit einer Tasse Kaffee und einem Croissant in
der Hand in ihr Wohnzimmer. Draußen heulte der Wind und es herrschten eisige Temperaturen.
Nach dem goldenen Oktober kam der Winter jetzt mit aller Macht und sie musste
sich noch ein bisschen an ihn gewöhnen.
Yvonne
entschied, dass das Wetter dazu einlud, den Tag in der Wohnung zu verbringen.
Später würde sie ein Bad nehmen, ein gutes Buch lesen, Musik hören. Kurzum: Sie
wollte sich einen gemütlichen Sonntag machen.
Entgegen
ihrer sonstigen Gewohnheit stellte sie bereits vormittags den Fernseher an.
Eine
alte Dampflok zuckelte über den Bildschirm. Bei dem Anblick kam ihr die
Metapher in den Sinn, die besagt, dass das Leben einer Zugfahrt gleicht.
Yvonne
stellte sich vor, wie sie am Tag ihrer Geburt in ihren Zug eingestiegen war. Wie
gut, dass bereits liebe Menschen darin Platz genommen hatten: Ihre Eltern, ihre
Schwester, Großeltern. Sie begleiteten sie auf ihrer Zugfahrt, die man Leben
nennt.
Doch
wie es so ist, hier und dort hält unser Zug an. Neue Menschen steigen ein, die
uns ein Stück weit begleiten. Freunde zum Beispiel. Manchmal bemerken wir es kaum,
wenn sie wieder aussteigen und nicht mehr da sind. Andere, die uns wichtig
sind, bleiben länger und hinterlassen eine große Lücke, wenn sie eines Tages
aussteigen müssen. Manche Abschiede fallen uns arg schwer. Besonders die von
sehr nahen Angehörigen.
Yvonne
gingen Worte durch den Kopf, die sie kürzlich aufgeschnappt hatte: „Wir müssen
in unserem Leben lernen, Abschied zu nehmen, denn eines Tages müssen wir uns
von unserem eigenen Körper verabschieden. Wie soll uns das gelingen, wenn wir vorher
niemals gelernt haben, Adieu zu sagen und loszulassen.“
Der
Zug zuckelte weiter über den Bildschirm. Gerade fuhr er über ein Viadukt. Es
war wundervoll anzuschauen. Sehr beeindruckend.
Auch
die Fahrt mit unserem Lebenszug bringt beeindruckende, fröhliche, aber auch
traurige Momente.
Ob
wir selbst beeinflussen können, wie schnell unser Zug fährt? Wie oft
haben wir in unserer heutigen, schnelllebigen Zeit den Eindruck, mit einem
Schnellzug unterwegs zu sein. Doch
wir sollten nicht vergessen, hin und wieder inne zu halten und aus dem Fenster
zu schauen, um alles Schöne, das die Zugfahrt für uns bereithält, auch wirklich
wahrzunehmen.
Yvonne
schaltete den Fernseher aus, stellte ihre leere Tasse auf die Spüle und ging
ins Bad, um sich Badewasser einzulassen.
Als
sie später die wohlige Wärme des Wassers spürte, gingen ihre Gedanken noch
einmal zurück zu ihrem Lebenszug.
Sie
dachte daran, dass sie der Lokführer im Zug ihres Lebens ist und sie freute
sich an all den Mitreisenden und sie war gespannt darauf, wohin die Reise noch ging.
Doch eines wurde ihr in dem Moment ebenfalls bewusst: Sie kannte weder den
Fahrplan, noch die Endstation!
©
Martina Pfannenschmidt, 2018