Donnerstag, 22. November 2018

Fahrplan


Noch im Schlafanzug schlurfte Yvonne mit einer Tasse Kaffee und einem Croissant in der Hand in ihr Wohnzimmer. Draußen heulte der Wind und es herrschten eisige Temperaturen. Nach dem goldenen Oktober kam der Winter jetzt mit aller Macht und sie musste sich noch ein bisschen an ihn gewöhnen.
Yvonne entschied, dass das Wetter dazu einlud, den Tag in der Wohnung zu verbringen. Später würde sie ein Bad nehmen, ein gutes Buch lesen, Musik hören. Kurzum: Sie wollte sich einen gemütlichen Sonntag machen.
Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit stellte sie bereits vormittags den Fernseher an.  
Eine alte Dampflok zuckelte über den Bildschirm. Bei dem Anblick kam ihr die Metapher in den Sinn, die besagt, dass das Leben einer Zugfahrt gleicht.
Yvonne stellte sich vor, wie sie am Tag ihrer Geburt in ihren Zug eingestiegen war. Wie gut, dass bereits liebe Menschen darin Platz genommen hatten: Ihre Eltern, ihre Schwester, Großeltern. Sie begleiteten sie auf ihrer Zugfahrt, die man Leben nennt.
Doch wie es so ist, hier und dort hält unser Zug an. Neue Menschen steigen ein, die uns ein Stück weit begleiten. Freunde zum Beispiel. Manchmal bemerken wir es kaum, wenn sie wieder aussteigen und nicht mehr da sind. Andere, die uns wichtig sind, bleiben länger und hinterlassen eine große Lücke, wenn sie eines Tages aussteigen müssen. Manche Abschiede fallen uns arg schwer. Besonders die von sehr nahen Angehörigen.
Yvonne gingen Worte durch den Kopf, die sie kürzlich aufgeschnappt hatte: „Wir müssen in unserem Leben lernen, Abschied zu nehmen, denn eines Tages müssen wir uns von unserem eigenen Körper verabschieden. Wie soll uns das gelingen, wenn wir vorher niemals gelernt haben, Adieu zu sagen und loszulassen.“
Der Zug zuckelte weiter über den Bildschirm. Gerade fuhr er über ein Viadukt. Es war wundervoll anzuschauen. Sehr beeindruckend.
Auch die Fahrt mit unserem Lebenszug bringt beeindruckende, fröhliche, aber auch traurige Momente.
Ob wir selbst beeinflussen können, wie schnell unser Zug fährt? Wie oft haben wir in unserer heutigen, schnelllebigen Zeit den Eindruck, mit einem Schnellzug unterwegs zu sein. Doch wir sollten nicht vergessen, hin und wieder inne zu halten und aus dem Fenster zu schauen, um alles Schöne, das die Zugfahrt für uns bereithält, auch wirklich wahrzunehmen.
Yvonne schaltete den Fernseher aus, stellte ihre leere Tasse auf die Spüle und ging ins Bad, um sich Badewasser einzulassen.
Als sie später die wohlige Wärme des Wassers spürte, gingen ihre Gedanken noch einmal zurück zu ihrem Lebenszug.
Sie dachte daran, dass sie der Lokführer im Zug ihres Lebens ist und sie freute sich an all den Mitreisenden und sie war gespannt darauf, wohin die Reise noch ging. Doch eines wurde ihr in dem Moment ebenfalls bewusst: Sie kannte weder den Fahrplan, noch die Endstation!

© Martina Pfannenschmidt, 2018