Es war schon dunkel, als ich von meiner Freundin nach Hause kam. Als
ich sah, dass Oma auf ihrem Balkon saß, beschloss ich, sie noch kurz zu
besuchen.
„Es ist für mich immer etwas Besonderes, in einer sternenklaren Nacht
das Firmament anzuschauen“, meinte sie, als ich den Balkon betrat.
Anschließend fragte sie mich, ob ich eine Vorstellung von der Größe des
Universums hätte und wie viele Sterne es meiner Meinung nach gäbe.
„Keine Ahnung“, hab ich gesagt, „es werden wohl einige Millionen sein.“
„Ein paar mehr sind es schon“, erwiderte sie und musste schmunzeln. „Ich
habe mal gelesen, dass es allein in unserer Galaxie über 6 Trillionen sind und
dass es geschätzt 100 Milliarden Galaxien gibt.“
„Boah ey, Oma. Das ist echt krass.“
„Ja, das finde ich auch. Man kommt sich ganz schön klein vor, gegenüber
dieser Größe, nicht wahr?“
Ich nickte zustimmend.
Nachdem wir eine Weile schweigend in den Himmel geschaut hatten, sagte
ich: „Als ich noch klein war, hab ich mich oft gefragt, warum ich all die
Menschen gar nicht sehen kann, die verstorben sind. Weißt du, wie ich meine?
Den Kindern wird immer erzählt, die Verstorbenen kommen in den Himmel, aber wo
da oben sind sie denn? Also, wenn ich ehrlich bin, hab ich bis heute darauf
keine vernünftige Antwort gefunden.“
Oma schwieg. Sie schweigt immer, bevor sie auf eine knifflige Frage
antwortet. Ist ja auch klar, schließlich soll man vor dem Reden sein Gehirn
einschalten.
Also, sie schwieg, dann meinte sie: „Es wäre vielleicht hilfreich, wenn
es in unserer Sprache nicht nur die Bezeichnung ‚Himmel’ gäbe, sondern zur
besseren Unterscheidung, so wie im Englischen, die Bezeichnungen ‚Sky’ und ‚Heaven’.
Das macht es ein klein wenig einfacher, wie ich finde.“
Das macht die Sache etwas einfacher, okay. Aber wirklich nur etwas und so fragte ich Oma: „Was denkst
du, was nach dem Tod kommt?“
Wieder kam zunächst nichts, als Schweigen.
Nach einer Weile antwortete Oma: „Es ist sehr schwierig, dir darauf
eine Antwort zu geben, denn irgendwie bleibt es Spekulation, nicht wahr.
Während ein Teil der Menschheit davon ausgeht, dass gar nichts mehr kommt,
stelle ich mir vor, dass ich ohne Körper weiter lebe. Reines Bewusstsein ist
für mich das, was bleibt.
Vielleicht braucht das reine Bewusstsein gar keinen Ort, so wie wir ihn
hier auf der Erde kennen, sondern es ist ein besonderer Zustand, den wir
erreichen. Schwerelos, lichtvoll und voller Liebe. So stelle ich es mir vor.“
„Das klingt so schön, Oma. Wenn es wirklich so ist, müssten wir ja gar
keine Angst haben. Aber die meisten Menschen fürchten sich vor dem Tod, weil
sie eben keine Vorstellung davon haben, was dann auf sie wartet …“
„… oder sich keine Gedanken darüber machen“, beendete sie meinen Satz.
„Genau!“, erwiderte ich.
„Es gibt so eine wundervolle Geschichte von Zwillingen“, fuhr Oma fort,
„die sich im Bauch der Mutter unterhalten. Sie möchten gerne dort bleiben, wo
sie sind. Dort ist es so schön. Alles ist bekannt. Sie fühlen sich wohl und
wissen nicht, was auf sie wartet, wenn sie geboren werden. Auch sie haben Angst
vor dem Neuen und Unbekannten. Und um die ganze Sache noch ein bisschen
komplizierter zu machen“, meinte Oma und schaute mich mit ihren klugen Augen
schelmisch an, „wo war denn das Bewusstsein der Babys, bevor sie in den Bauch
der Mutter kamen?“
„Mensch, Oma! Ich habe keine Ahnung!“
„Vielleicht“, sagte sie mit einem Blick gen Himmel, „gehen wir ja
wieder dorthin zurück, woher wir kamen. Wäre doch möglich, oder?“
„Ja, das wäre möglich!“, erwidere ich.
© Martina Pfannenschmidt, 2018