Dienstag, 28. August 2018

Zeitfresser

Heute gibt es mal wieder etwas, was unbedingt in mein Büchlein geschrieben werden muss.
Zunächst eine Geschichte, die sich früh am Morgen zutrug.
Also, das war so: Ich kam noch ziemlich verschlafen zu Oma in die Küche. An meinem letzten Ferientag wollte ich bei ihr frühstücken.
Als ich den Raum betrat, war sie gerade dabei, das Fenster weit zu öffnen und dabei sagte sie etwas, das klang wie: „Wespen! Wespen!“
Wie gesagt, ich schlief fast noch, konnte mir aber nicht denken, dass es sich um einen Lockruf handelte. Wer holt sich schon freiwillig Wespen in seine Küche? Die kommen doch von alleine, wenn sie den Geruch von Erdbeer- oder Pflaumenmarmelade riechen. Deshalb fand ich das schon ziemlich schräg, was Oma machte.
Erst auf den zweiten Blick sah ich, dass sich schon eine Wespe in der Küche befand und Oma sie offensichtlich vertreiben wollte. Da gibt es ja die unterschiedlichsten Methoden. Die meisten hätten wohl zu einer ‚Klatsche’ gegriffen. Aber wie ich schon sagte, meine Oma ist anders.
Als ich genauer hinhörte, bemerkte ich meinen Fehler. Sie rief nicht „Wespen!“, sie rief: „Westen!“.
Nun machte diese Tatsache das Bild nicht klarer, weshalb ich sie fragte, was sie dort treibt.
„Schau“, sagte sie, „eine Wespe hat sich in meine Küche verirrt. Sie wird schon ganz nervös, weil sie nicht wieder hinaus findet. Deshalb helfe ich ihr. Wenn du ein Fenster öffnest und ihr die Himmelsrichtung sagst, in die sie fliegen muss, dann nimmt sie das Angebot dankbar an.“
„Alles klar“, dachte ich, „so früh am Morgen und Oma ist schon auf Droge!“
Und was sahen meine Augen in diesem Moment? Die freche kleine Wespe flog zielsicher aus dem Fenster heraus.
„Siehst du!“, triumphierte Oma. „Das klappt immer. Probier es beim nächsten Mal ruhig aus.“
„Darauf kannst du Gift nehmen!“, dachte ich.
Als ich in das Brötchen mit der leckeren Erdbeermarmelade biss, kam die Rede unweigerlich auf den morgigen Schulbeginn. Irgendwann waren wir beim Thema Zeit angekommen und dass so viele Menschen über fehlende Zeit klagen. Oma meinte daraufhin: „Zeit vergeht bei allen Menschen gleich und es ist gut, dass man sich keine Zeit dazu kaufen kann. Egal, wie viel Geld man besitzt!“
„Das stimmt natürlich. Das ist ziemlich gerecht“, fiel mir auf.
„Was sich viele nicht bewusst machen“, sagte Oma, „ist die Tatsache, dass ‚Zeit’ ja auch gleichzeitig ‚Lebenszeit’ bedeutet.“
So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Aber sie hatte recht.
„Weißt du, Kind“, da war es wieder dieses schreckliche Wort, „wir müssen uns selbst um unsere Zeit kümmern und entscheiden, wie wir sie verleben und womit wir sie verbringen.“
Oma schwieg. Vielleicht wollte sie mir Gelegenheit geben, darüber nachzudenken, bevor sie weiter sprach.
„Stell dir vor, dass am Tag deiner Geburt eine Uhr zu ticken begann, die seither quasi ‚herunter’ läuft und eines Tages wird sie unweigerlich stehen bleiben. Deshalb sollten wir uns bewusst machen, dass bei allem, was wir tun, nicht einfach nur ‚Zeit’, sondern unsere wertvolle Lebenszeit vergeht.“
„Also ehrlich Oma, so habe ich das noch nie gesehen“, erwiderte ich verblüfft.
„Dann wird es wohl Zeit, dass du damit beginnst“, sagte sie lächelnd.
„Und wie verbringe ich meine wertvolle Lebenszeit sinnvoll?“, fragte ich.
„Wie wäre es damit, dich zu fragen, was den höchsten Stellenwert für dich hat? Wie viel Zeit möchtest du dafür einplanen? Dann gibt es lebensnotwendige Dinge wie Essen, Trinken, Schlafen. Wie viel deiner Zeit setzt du dafür ein? Möchtest du das Essen schnell hinter dich bringen oder ist dir die Zeit dafür so wertvoll, dass du dir erlaubst, es zu genießen?“
Wieder biss ich gedankenlos in das Brötchen und ich entschied spontan, dem Essen ab sofort eine andere Bedeutung zu geben. Schließlich verbringe ich meine wertvolle Lebenszeit damit.
Oma sah mich von der Seite an und ich wusste, jetzt kam etwas, dass mir nicht so behangen würde. Bingo! Ich hatte es geahnt.
„Es gibt natürlich auch ‚Zeitfresser’“, meinte sie belanglos. „Vielleicht gehört die Zeit, die du in verschiedenen Netzwerken verbringst, dazu!“
Ich ahnte, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, gab es vor ihr jedoch nicht zu und tat so, als wenn mich gar nicht interessierte, was sie gerade gesagt hatte. Doch das war nicht so. Ihre Worte hatten mir einen Stich versetzt und ich würde mich ab sofort mehr um meine Zeit kümmern und mich fragen, welche meiner Aktivitäten sinnlose Zeitfresser waren und welche mir soviel bedeuteten, dass ich ihnen gestattete, wertvolle Lebenszeit mit ihnen zu verbringen.
„Weißt du, Neele“, und wenn Oma mich beim Vornamen nennt, weiß ich immer, dass etwas Wichtiges kommt, „du entscheidest über deine Aktivitäten. Und wenn du entscheidest, dann so, dass es für dich gut und richtig ist. Schließlich ist es dein Leben und deine Lebenszeit, die verrinnt.“
Morgen beginnt nun wieder die Schule und eines ist mir so klar, wie noch nie: Meine wertvolle Lebenszeit verrinnt, während ich die Schulbank drücke. Dann soll doch bitteschön auch etwas Sinnvolles für mich dabei heraus kommen. Meine Lebenszeit ist viel zu wertvoll, um dort nur ‚abzuhängen’. Also, wenn ich schon meine Lebenszeit in der Schule verbringe, kann ich sie auch sinnvoll nutzen. 

© Martina Pfannenschmidt, 2018