Zunächst
eine Geschichte, die sich früh am Morgen zutrug.
Also,
das war so: Ich kam noch ziemlich verschlafen zu Oma in die Küche. An meinem
letzten Ferientag wollte ich bei ihr frühstücken.
Als
ich den Raum betrat, war sie gerade dabei, das Fenster weit zu öffnen und dabei
sagte sie etwas, das klang wie: „Wespen! Wespen!“
Wie
gesagt, ich schlief fast noch, konnte mir aber nicht denken, dass es sich um
einen Lockruf handelte. Wer holt sich schon freiwillig Wespen in seine Küche?
Die kommen doch von alleine, wenn sie den Geruch von Erdbeer- oder
Pflaumenmarmelade riechen. Deshalb fand ich das schon ziemlich schräg, was Oma
machte.
Erst
auf den zweiten Blick sah ich, dass sich schon eine Wespe in der Küche befand
und Oma sie offensichtlich vertreiben wollte. Da gibt es ja die
unterschiedlichsten Methoden. Die meisten hätten wohl zu einer ‚Klatsche’
gegriffen. Aber wie ich schon sagte, meine Oma ist anders.
Als
ich genauer hinhörte, bemerkte ich meinen Fehler. Sie rief nicht „Wespen!“, sie
rief: „Westen!“.
Nun
machte diese Tatsache das Bild nicht klarer, weshalb ich sie fragte, was sie
dort treibt.
„Schau“,
sagte sie, „eine Wespe hat sich in meine Küche verirrt. Sie wird schon ganz
nervös, weil sie nicht wieder hinaus findet. Deshalb helfe ich ihr. Wenn du ein
Fenster öffnest und ihr die Himmelsrichtung sagst, in die sie fliegen muss, dann
nimmt sie das Angebot dankbar an.“
„Alles
klar“, dachte ich, „so früh am Morgen und Oma ist schon auf Droge!“
Und
was sahen meine Augen in diesem Moment? Die freche kleine Wespe flog zielsicher
aus dem Fenster heraus.
„Siehst
du!“, triumphierte Oma. „Das klappt immer. Probier es beim nächsten Mal ruhig
aus.“
„Darauf
kannst du Gift nehmen!“, dachte ich.
Als
ich in das Brötchen mit der leckeren Erdbeermarmelade biss, kam die Rede
unweigerlich auf den morgigen Schulbeginn. Irgendwann waren wir beim Thema Zeit
angekommen und dass so viele Menschen über fehlende Zeit klagen. Oma meinte daraufhin:
„Zeit vergeht bei allen Menschen gleich und es ist gut, dass man sich keine
Zeit dazu kaufen kann. Egal, wie viel Geld man besitzt!“
„Das
stimmt natürlich. Das ist ziemlich gerecht“, fiel mir auf.
„Was
sich viele nicht bewusst machen“, sagte Oma, „ist die Tatsache, dass ‚Zeit’ ja
auch gleichzeitig ‚Lebenszeit’ bedeutet.“
So
hatte ich das noch gar nicht gesehen. Aber sie hatte recht.
„Weißt
du, Kind“, da war es wieder dieses schreckliche Wort, „wir müssen uns selbst um
unsere Zeit kümmern und entscheiden, wie wir sie verleben und womit wir sie
verbringen.“
Oma
schwieg. Vielleicht wollte sie mir Gelegenheit geben, darüber nachzudenken,
bevor sie weiter sprach.
„Stell
dir vor, dass am Tag deiner Geburt eine Uhr zu ticken begann, die seither quasi
‚herunter’ läuft und eines Tages wird sie unweigerlich stehen bleiben. Deshalb
sollten wir uns bewusst machen, dass bei allem, was wir tun, nicht einfach nur
‚Zeit’, sondern unsere wertvolle Lebenszeit vergeht.“
„Also
ehrlich Oma, so habe ich das noch nie gesehen“, erwiderte ich verblüfft.
„Dann
wird es wohl Zeit, dass du damit beginnst“, sagte sie lächelnd.
„Und
wie verbringe ich meine wertvolle Lebenszeit sinnvoll?“, fragte ich.
„Wie
wäre es damit, dich zu fragen, was den höchsten Stellenwert für dich hat? Wie
viel Zeit möchtest du dafür einplanen? Dann gibt es lebensnotwendige Dinge wie
Essen, Trinken, Schlafen. Wie viel deiner Zeit setzt du dafür ein? Möchtest du
das Essen schnell hinter dich bringen oder ist dir die Zeit dafür so wertvoll,
dass du dir erlaubst, es zu genießen?“
Wieder
biss ich gedankenlos in das Brötchen und ich entschied spontan,
dem Essen ab sofort eine andere Bedeutung zu geben. Schließlich verbringe ich meine wertvolle Lebenszeit damit.
Oma
sah mich von der Seite an und ich wusste, jetzt kam etwas, dass mir nicht so
behangen würde. Bingo! Ich hatte es geahnt.
„Es
gibt natürlich auch ‚Zeitfresser’“, meinte sie belanglos. „Vielleicht gehört
die Zeit, die du in verschiedenen Netzwerken verbringst, dazu!“
Ich
ahnte, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, gab es vor ihr jedoch
nicht zu und tat so, als wenn mich gar nicht interessierte, was sie gerade
gesagt hatte. Doch das war nicht so. Ihre Worte hatten mir einen Stich versetzt
und ich würde mich ab sofort mehr um meine Zeit kümmern und mich fragen, welche
meiner Aktivitäten sinnlose Zeitfresser waren und welche mir soviel bedeuteten,
dass ich ihnen gestattete, wertvolle Lebenszeit mit ihnen zu verbringen.
„Weißt
du, Neele“, und wenn Oma mich beim Vornamen nennt, weiß ich immer, dass etwas
Wichtiges kommt, „du entscheidest über deine Aktivitäten. Und wenn du entscheidest, dann so, dass es für dich
gut und richtig ist. Schließlich ist es dein Leben und deine Lebenszeit, die verrinnt.“
Morgen
beginnt nun wieder die Schule und eines ist mir so klar, wie
noch nie: Meine wertvolle Lebenszeit verrinnt, während ich die Schulbank
drücke. Dann soll doch bitteschön auch etwas Sinnvolles für mich dabei heraus
kommen. Meine Lebenszeit ist viel zu wertvoll, um dort nur ‚abzuhängen’. Also,
wenn ich schon meine Lebenszeit in der Schule verbringe, kann ich sie auch sinnvoll
nutzen.
©
Martina Pfannenschmidt, 2018