Nadel im Heuhaufen
Wie gerne hätte Mirja jetzt den Hörer auf die
Gabel geknallt, aber leider geht das ja in heutiger Zeit nicht mehr. Ihre
Mutter ging ihr mit ihren ewigen Schuldzuweisungen gehörig auf die Nerven.
Immer waren es die anderen, die an einer misslichen Situation die Schuld
trugen. Niemals lag es an ihrer Mutter! Niemals!
Mirja trat auf den Balkon hinaus, um eine
Zigarette zu rauchen. Vielleicht half ihr das, wieder herunter zu kommen.
Eigentlich wollte sie sich ja nicht mehr darüber aufregen. Eigentlich!
Als sie den ersten Zug inhaliert hatte, hörte
sie zwei kleine Mädchen, die offenbar in Streit geraten waren.
„Du bist Schuld!“
„Nein, bin ich gar nicht!“
„Doch, weil du mir meine Sachen aus der Hand
reißen wolltest, sind sie mir herunter gefallen.“
„Gar nicht. Ich wollte dir nur beim
Zusammenbauen helfen.“
Doch dieses Argument verhallte und erneut kam
die Beschuldigung: „Das ist alles deine Schuld!“
„Das gibt es doch nicht“, sagte Mirja zu sich
selbst.
Dieses System der Schuldzuweisung klappt sogar
schon bei Kindern. Aber so ist es wohl, wenn die Erwachsenen nicht vorleben,
dass man die Schuld lieber bei sich selbst suchen sollte.
Mirja lebte alleine in einer kleinen Wohnung
direkt über dem Friseursalon, in dem sie arbeitete. Das war ein großes Glück
für sie. Erstens liebte sie ihren Beruf und zweitens war sie ein
aufgeschlossener Mensch, der sich gerne mit anderen unterhielt.
Gerade jetzt in den Sommermonaten kamen viele
Urlauber in den Salon und so freute sie sich, fremde Menschen durch Gespräche
näher kennen zu lernen. Es war keine Neugier ihrerseits, sondern echtes
Interesse an den Lebensgeschichten der anderen. Auch wenn sich viele
Lebensmodelle ähneln, so ist doch jedes Leben einzigartig und genau das ist es,
was sie daran fasziniert.
Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass ihre Pause
beendet war. Mirja drückte ihre Zigarette aus und lief hinunter in den Salon.
„Gut, dass du kommst“, wurde sie sogleich von
ihrer Chefin begrüßt. „Deine Kundin wartet schon seit einer Viertelstunde auf
dich.“
Mirja blickte erneut auf ihre Armbanduhr:
„Aber …“.
„Ja, ich weiß. Du bist pünktlich. Die ältere
Dame dort hinten war viel zu früh dran.“
Dabei zwinkerte die Chefin ihr zu. Das
kannten sie schon. Während jüngere Kundinnen gerne etwas später eintrafen, kamen
ältere oft vor der Zeit.
„Guten Tag, mein Name ist Mirja“, begrüßte
sie die Kundin freundlich. „Was darf ich für Sie tun?“
Die ältere Dame blickte sie mit warmen Augen
an: „Sie dürfen mich hübsch machen“, erwiderte sie und strahlte, als sie
fortfuhr, „für einen ganz besonderen Anlass.“
„Oh, das klingt ja spannend. Vielleicht mögen
Sie mir ein bisschen erzählen, während ich versuche, ihren Wunsch zu erfüllen.“
„Wir feiern heute unsere Goldene Hochzeit und mein Mann will mich heute Abend groß
ausführen", erzählte die Kundin bereitwillig.
„Herzlichen Glückwunsch! Das ist aber
wirklich ein Grund, sich fein zu machen.“
„Nicht wahr! 50 Jahre! Ich kann es gar nicht
glauben. Wissen Sie, wir haben damals unsere Hochzeitsreise hierher gemacht.
Seither kommen wir immer mal wieder hier auf diese bezaubernde Insel. Leben Sie
hier?“, erkundigte sich die Dame interessiert.
„Ja, ich kam, wie Sie, als Urlauberin her und
bin dann wegen der Liebe geblieben.“
„Vielleicht erleben Sie ja auch eines Tages
ihre Goldene Hochzeit.“
Mirja lachte auf: „Eher nicht. Die Liebe ging
– aber ich blieb.“
„Oh je! Aber ich kann gut verstehen, dass sie
blieben. Doch ich kann mir denken, dass es in den Wintermonaten ziemlich einsam
ist, oder nicht?“
„Ach wissen Sie“, erwiderte Mirja, „vielleicht
ist es gerade dieser Kontrast zwischen der quirligen Sommer- und der ruhigen
Winterzeit, die mich hier hält.“
Die Kundin schwieg daraufhin eine Weile. Als
sich bald darauf ihre Blicke im Spiegel trafen, hatte Mirja den Eindruck, als
sei ein Anflug von Traurigkeit in den Augen der Kundin erkennbar.
Mirja täuschte sich nicht.
„Wir führen eine wirklich harmonische Ehe“,
begann die Dame daraufhin zu erzählen, „doch es gibt da etwas, das kann ich mir bis heute nicht verzeihen.“
„Oh nein, bitte nicht“, dachte Mirja in
diesem Augenblick. „Bitte keine Lebensbeichte dieser Form. Soviel Privates
möchte ich dann doch nicht hören.“
Es kam jedoch ganz anders, als erwartet.
„Ich habe Ihnen ja vorhin schon erzählt, dass
uns unsere Hochzeitsreise hierher führte. Wir waren zu der Zeit nicht nur sehr
verliebt, sondern auch sehr sportlich. Ich weiß bis heute nicht, wann und wie
es passiert ist, doch ich habe meinen Ehering damals verloren. So kurz nach der
Hochzeit. Das kann ich mir einfach nicht verzeihen.“
Die Kundin drehte dabei einen Ring an ihrem
Finger. „Wir haben lange im Sand gesucht. Doch das ist ja so, als würde man
eine Nadel im Heuhaufen suchen.“
„Vielleicht sogar noch etwas schwieriger“,
entgegnete Mirja mitfühlend.
„Wir haben ihn nicht gefunden, sondern einen
anderen gekauft, aber es ist halt nicht der, den mir mein Mann bei der Trauung
angesteckt hat“, erzählte die Frau traurig, während sie auf ihre Hand schaute.
Mirja nickte verständnisvoll.
„Sie werden es nicht glauben“, fuhr die
Kundin schmunzelnd fort, „aber wir suchen ihn immer noch. Jedes Mal, wenn wir
hier Urlaub machen, hoffen wir, dass wir ihn doch noch finden.“
Mirja lächelte der Dame zu, weil sie nicht
wusste, was sie sagen sollte. Dass es sich dabei um ein aussichtsloses
Unterfangen handelte, wusste die Kundin sicher auch.
Als die ältere Dame den Salon einige Zeit später frisch
frisiert verlassen wollte, stürmte eine junge Frau hinein. Sie war völlig außer
Atem, als sie die Kundin ansprach: „Wie gut, dass Sie noch da sind! Ich
wurde vorhin ungewollt Zeugin ihres Gespräches. Wissen Sie, es ist mein Hobby,
in den Wintermonaten den Strand mit einem Detektor abzusuchen. Und so habe ich
schon manchen Schatz gefunden. Schauen Sie doch bitte mal, vielleicht ist ja Ihr Ehering dabei.“
Während sie das sagte, öffnete sie eine alte
Keksdose.
Die ältere Dame sah die junge Frau an. Als sie anschließend in die kleine Schatzkiste schaute, griff sie zielsicher hinein. Völlig fassungslos hielt sie ihren Ehering in Händen! Nach 50 Jahren!
© Martina Pfannenschmidt, 2018