Graufellchen
saß in seiner kleinen Höhle und zitterte am ganzen Körper. Das lag nicht etwa
daran, dass die Heizung bei Gerda und Karl ausgefallen war, sondern an seiner
Angst und seinem schlechten Gewissen. Er wusste ganz genau, dass er zu weit
gegangen war. Das hätte er nicht machen dürfen. Aber jetzt war es passiert –
und nun? Ob die beiden Menschen ihn deshalb verjagen würden?
Nachdem
das Ehepaar das Haus verlassen hatte, war Graufellchen neugierig zu dem kleinen
Schrank gelaufen. Die beiden hatten dort am Morgen etwas aufgestellt, was sie
Krippe nannten.
Das
Mäuschen wusste nicht, was eine Krippe ist. Deshalb hatte es schauen wollen.
Daran war ja auch nichts Verwerfliches. Eigenartig hatte er die Szenerie gefunden:
Ein Ochse, ein Esel, ein paar Schafe und Hirten standen dort in einem Stall. Ja
und ein Mann und eine Frau. Die Frau kniete vor einer Futterkrippe – der Mann
stand daneben. Das alles hatte eigenartig auf Graufellchen gewirkt, weshalb er
hatte schauen wollen, was sich denn dort in der Futterkrippe befindet. Doch
dann war es passiert …
Als
sich die Wohnungstür öffnete, fing Graufellchen noch schlimmer an zu zittern,
obwohl dies kaum möglich war. Aber seine kleinen Zähnchen klapperten derart
aufeinander, dass man es fast hätte hören können.
„Ach,
war das ein wundervolles Konzert, Gerda. Jetzt bin ich so richtig in
weihnachtlicher Stimmung.“
„Das
war ich schon, als wir heute morgen die Krippe aufgestellt haben“, erwiderte
Gerda.
Und
dann kam, was kommen musste. Die beiden betraten die Stube und ihr Blick fiel
auf die Krippe.
„Nanu“,
wunderte sich Gerda, „was ist denn hier geschehen? Die Krippe für das Jesuskind
wurde umgeschmissen und das Stroh liegt verteilt herum.“
Dass
Gerda dabei Karl einen viel sagenden Blick zuwarf und mit ihrem Kopf Richtung
Graufellchen-Höhle nickte, konnte die Maus natürlich nicht sehen.
Karl
wurde laut: „Das kann doch nicht wahr sein. Welcher Hallodri war hier am Werk.
Du, dem werde ich aber sein Handwerk legen.“
O
weia! Graufellchen wurde ganz mulmig zumute. Hätte er nicht so gezittert, so
hätte er schnell seine Sachen zusammen gesucht und wäre geflohen. Doch er
konnte sich vor lauter Angst gar nicht bewegen.
Dass
Karl das gar nicht so meinte, sondern es sich eher um eine erzieherische Maßnahme
handelte, ahnte das Mäuschen ja nicht. Da Gerda befand, dass Karl ein bisschen
übertrieb, rief sie - auch lauter als sonst: „Ach Karl, lass gut sein. Es ist
doch morgen Heiligabend. Da soll doch Frieden herrschen, nicht wahr.“
„Na
gut!“ Karl sprach immer noch laut. „Diesmal will ich noch einmal Gnade vor
Recht ergehen lassen, aber wenn das noch einmal passiert, dann …“.
Was
dann geschehen würde, ließ er im Raum stehen.
Graufellchen
war unglaublich dankbar. Er wusste ja genau, dass er wirklich über die Stränge
geschlagen hatte. Das würde er sich hinter seine süßen kleinen Ohren schreiben
und demnächst vorsichtiger sein.
Eine
Sache fand er aber immer noch merkwürdig. Weshalb kniete eine Frau in einem
Stall vor einer leeren Futterkrippe? Ob er das wohl noch erfahren würde?
Gerda
richtete schnell alles wieder her und die zwei setzten sich wie immer in ihre
gemütlichen Sessel.
„Ach,
ich freue mich schon, wenn wir am Heiligabend das Jesuskind in die Krippe
legen, so wie wir es immer tun. Wo hast du es überhaupt
hingelegt?“, erkundigte sich Karl.
Gerda
schmunzelte: „Es liegt dort, wo es immer liegt, bevor es seinen Platz
einnimmt.“
Jetzt
schmunzelte auch Karl: „Im Schrank in der Sauciere?“
„Gewiss!“
Das
alles war das reinste Mysterium für Graufellchen. Niemals zuvor hatte er von
einem Jesuskind gehört. Doch warum musste es zuerst in einer Sauciere und dann
in einer Futterkrippe liegen? Komisch!
Gerda
stand auf: „Wir haben ja noch gar nicht die Kerzen am Adventskranz entzündet.“
Während
sie die Kerzen anzündete, fragte sie ihren Mann: „Mir kommt gerade eine
Geschichte in den Sinn. Sie stammt von Anthony de Mello. Soll ich sie dir
vielleicht erzählen?“
„Ich
bitte darum.“
Auch
das Mäuschen spitzte seine Ohren. Vielleicht könnte es auf diese Weise mehr
über das Jesuskind erfahren.
„Die
Geschichte geht ungefähr so“, begann Gerda. „Draußen lag Schnee, es war ganz
still und auf dem Adventskranz brannten vier Kerzen.
Da
sprach die erste Kerze: ‚Ich heiße Frieden. Mein Licht gibt Sicherheit, doch
auf der Welt ist so viel Krieg. Ich glaube, die Menschen wollen mich gar nicht.’
So
wurde ihr Licht immer kleiner, bis es ganz erlosch.
Die
zweite Kerze sagte: ‚Ich heiße Glauben. Aber ich bin wohl überflüssig. Die
Menschen glauben scheinbar an gar nichts mehr. Warum also sollte ich brennen?’
Da
kam ein Luftzug und löschte sie.
Die
dritte Kerze meinte: ‚Ich heiße Liebe. Aber ich habe keine Kraft mehr, um zu
brennen. Die Menschen sehen nur noch sich selbst und sind nicht mehr bereit,
sich gegenseitig zu lieben.’
Kurz
flackerte sie noch einmal auf, bevor sie erlosch.
Da
betrat ein Kind den Raum. Es wurde traurig, weil die meisten Kerzen des Kranzes
nicht mehr leuchteten.
Da
sprach die vierte Kerze zu ihm: ‚Sei nicht traurig. Solange ich brenne, können
wir auch die anderen Kerzen immer wieder an mir entzünden.’
‚Und
wer bist du?’, fragte das Kind.
‚Ich
bin die Hoffnung’, erwiderte die vierte Kerze.
Da
suchte das Kind ein kleines Stückchen Holz, nahm Feuer von dieser Kerze und
zündete die anderen drei wieder an.“
„Das
ist eine wunderschöne Erzählung, Gerda. Wir wollen die Hoffnung nie verlieren,
dass alles gut ist oder gut wird.“
Zwar
war Graufellchen ein bisschen traurig, weil er nun immer noch nicht wusste, was
es genau mit dem Kind in der Futterkrippe auf sich hatte, doch er war voller
Zuversicht, dass er am Heiligabend, wenn die beiden Menschen das Jesuskind in
die Krippe legen würden, mehr darüber erfahren würde und darauf freute er sich
sehr.
©
Martina Pfannenschmidt, 2017