Samstag, 23. Dezember 2017

Graufellchen (10) – Heiligabend

Dass heute ein ganz besonderer Tag sein musste, merkte Graufellchen sogleich nach dem Aufstehen, denn Gerda und Karl waren schon vor ihm aufgestanden. Das passierte nicht so häufig.
Sie saßen bereits am Frühstückstisch und machten Pläne für den Tag. „Holst du gleich das Bäumchen vom Balkon? Dann kann ich damit beginnen, es zu schmücken.“
„Selbstverständlich!“, erwiderte Karl. „Und dank des neuen Tannenbaumständers wird es keinerlei Streitereien wegen eines schief stehenden Bäumchens geben.“
„Als ob wir uns deshalb je gestritten hätten“, meinte Gerda.
„Na, da habe ich aber ganz andere Erinnerungen“, erwiderte Karl grinsend. „Aber ich gebe dir recht. Es war kein Streit, eher eine Meinungsverschiedenheit.“
Nach dem Frühstück begannen die beiden mit ihrem quirligen Treiben. Graufellchen hatte sich nicht aus seiner Höhle getraut. Zum einen saß ihm noch der Schock vom Tag zuvor in den Knochen, zum anderen verbreiteten die beiden Menschen eine gewisse Unruhe.
Nach einiger Zeit duftete der ganze Raum herrlich nach Tannennadeln. Es war zwar alles etwas merkwürdig, was die zwei veranstalteten, doch irgendwie fand Graufellchen Gefallen an all dem.
Zur Mittagszeit fand das Ehepaar doch noch etwas Zeit, um sich auszuruhen und einen Mittagsschlaf zu halten. Am späten Nachmittag war es endlich soweit. Gerda öffnete die Schublade und nahm das Kind aus der Sauciere, doch sie legte es nicht in die Krippe, sondern in die Karls Hand. Es war wohl ihm vorbehalten, diesen Akt auszuführen.
Ganz gerührt standen die beiden und betrachteten ihre Krippe.
„Frohe Weihnachten, Karl!“
„Frohe Weihnachten, Gerda!“
Dann nahmen sie sich in den Arm und es hatte den Anschein, als würden sie sich niemals wieder loslassen wollen.
Bald darauf übergab Gerda ein buntes Päckchen an Karl, der es vorsichtig öffnete.
„Ach Gerda, du hast mir doch den Kaschmirschal gekauft. Der ist doch viel zu teuer.“
„Aber weich“, erwiderte Gerda.
„Ich danke dir. Den werde ich gleich morgen bei unserem Spaziergang tragen.“
Karl erhob sich und holte nun seinerseits ein ziemlich großes Paket und übergab es Gerda. „Natürlich habe ich auch ein Geschenk für dich“, meinte er, „auch wenn es nicht so wertvoll ist, wie deins.“
Vorsichtig öffnete Gerda daraufhin das Paket.
„Ach Karl, das ist noch viel wertvoller, als mein Geschenk. Genau so eines habe ich mir immer gewünscht. Das hast du ganz zauberhaft gemacht. Wir werden es bald draußen aufstellen, ja. Es ist wirklich das schönste Vogelhäuschen weit und breit. Nun weiß ich auch, was du immer heimlich in der Werkstatt gemacht hast.“
Die ganze Zeit über liefen im Hintergrund weihnachtliche Lieder, die Graufellchen nicht kannte, doch alle wunderschön fand. Der allerschönste Moment des Nachmittags war jedoch der gewesen, als Karl all die Kerzen am Baum entzündet hatte. Graufellchen konnte sich gar nicht satt sehen daran.
Gerda erhob sich von ihrem Platz und meinte an Karl gerichtet: „Ein winziges Geschenk habe ich noch. Es ist allerdings nicht für dich gedacht, sondern für …“
Mehr sagte sie nicht, trat vor die Höhle von Graufellchen und legte dort etwas ab. Als sie wieder zurück ging zu ihrem Sessel, platzte das Mäuschen vor Neugierde. Es musste wissen, was vor seiner Tür lag, deshalb schaute es mit seinem Köpfchen vorsichtig aus seiner Höhle heraus und traute seinen Augen kaum. In einer halben Walnuss-Schale war die Krippenszene zu sehen. Ein Geschenk von Karl und Gerda für ihn. Graufellchen zog sein Köpfchen schnell wieder zurück. Er wollte nicht, dass die beiden Menschen seine Tränchen sehen.
„Nachdem nun alle ihre Geschenke bekommen haben“, meinte Gerda bald darauf, „möchte ich eine Geschichte vorlesen. Leider kenne ich den Verfasser* nicht, aber sie ist einfach zauberhaft und hat mich unglaublich berührt.“
Sie begann zu lesen:
Mit den Hirten kam auch der achtjährige Jonathan in den Stall von Bethlehem. Er schaute das Kind an, und das Kind schaute ihn an. Dann traten dem Jungen Tränen in die Augen.
„Warum weinst du?“, fragte das Jesuskind.
„Weil ich dir nichts mitgebracht habe.“
„Du kannst mir trotzdem etwas schenken“, entgegnete Jesus.
Da wurde Jonathan rot vor Freude und sagte: „Ich will dir gern das Schönste geben, was ich habe.“
„Drei Dinge möchte ich von dir haben“, sagte Jesus.
Jonathan schlug sofort vor: „Mein neues Fahrrad, meine Eisenbahn und mein schönes neues Buch mit den vielen Bildern.“
„Nein“, sagte Jesus, „das alles brauche ich nicht. Dazu bin ich nicht auf die Erde gekommen. Ich möchte von dir etwas ganz anderes haben.“
„Was denn?“, fragte Jonathan aufgeregt.
„Schenk mir deine letzte Klassenarbeit“, sagte Jesus ganz leise, damit es sonst niemand hören konnte.
Da erschrak Jonathan.
„Jesus“, flüsterte er zurück und kam dabei ganz nahe an die Krippe, „da hat doch der Lehrer darunter geschrieben: Ungenügend!“
„Eben darum will ich sie ja haben.“
„Aber warum denn?“, wollte Jonathan wissen.
„Du sollst mir immer das bringen, wo in deinem Leben „Ungenügend“ drunter steht. Versprichst du mir das?“
„Ja, gern“, antwortete Jonathan. 
„Und ich möchte noch ein zweites Geschenk von dir haben: Dein Teeglas.“
„Aber das habe ich doch heute morgen zerbrochen.“
„Bring mir immer das, was du im Leben kaputt gemacht hast. Ich will es wieder heil machen. Versprichst du mir das.“

„Ja, gern“, flüsterte Jonathan. 
„Und nun mein dritter Wunsch“, sagte Jesus. „Bring mir noch die Antwort, die du deiner Mutter gegeben hast, als sie dich fragte, wie denn das Teeglas kaputt gegangen ist.“
Da legte Jonathan den Kopf auf die Kante der Krippe und weinte leise vor sich hin.

„Ich, ich, ich…“, brachte er mühsam heraus, „ich sagte, dass das Teeglas herunter gefallen ist, aber in Wahrheit habe ich es absichtlich aus Übermut vom Tisch gestoßen.“
„Bring mir all deine Lügen, alles Böse, was du denkst oder tust“, sagte Jesus. „Und wenn du damit zu mir kommst, will ich dir vergeben und dir helfen und dich davon freimachen. Willst du dir das von mir schenken lassen?“
Da hörte Jonathan auf zu weinen. Er staunte, und sein Herz war voll Freude. Er kniete nieder vor der Krippe und dankte dem Jesuskind. 


© Martina Pfannenschmidt, 2017

 * Sollte jemand den Verfasser kennen oder selbst der Verfasser sein, so bitte ich sehr herzlich, mir dies mitzuteilen. Danke!


!Allen!
!früheren!
!und neuen Lesern!
!wünsche ich von ganzem!
!Herzen ein frohes Weihnachtsfest!