Graufellchen ging es gar nicht gut. In seinem Bauch rumpelte und
pumpelte es. Der Grund dafür war schnell gefunden: Das reichhaltige Essen, das
es - nicht nur für ihn - in den letzten Tagen bei Gerda und Karl gegeben hatte.
Während das Mäuschen auf seinem Wollmaus-Bettchen lag, sann es über die
vergangenen Tage nach und musste sich eingestehen, dass es den Sinn des
Weihnachtsfestes für sich immer noch nicht so recht erkannt hatte, weshalb es resümierte:
Die Menschen stellen eine Tanne ins Zimmer und schmücken sie mit Kerzen,
Sternen aus Stroh und bunten Kugeln. Des Weiteren wird eine Krippe aufgestellt,
in der ein kleiner Junge liegt. Man beschenkt sich, bekommt jede Menge Besuch
und isst ohne Unterlass. Doch warum tun die Menschen all das?
Noch niemals zuvor hatte sich Graufellchen einer derartigen Völlerei
hingegeben. Jetzt zeigte ihm sein Körper, dass er diesbezüglich kürzer treten
musste. Außerdem fehlte ihm eindeutig Bewegung.
In der Zeit, in der seine Lieblingsmenschen Gäste zu Besuch hatten, war
er nicht aus seiner Höhle heraus gekommen. Ja und heute Morgen wäre er auch
fast nicht aus seiner Höhle heraus gekommen, aber aus einem anderen Grund: Sein
Bauch war so dick geworden. Er hatte sich regelrecht aus dem Ausgang herausquetschen
müssen.
Und noch etwas war in den letzten Tagen unmöglich gewesen: Den Menschen
zuzuhören. Es hatte sich wie Geschnatter angehört. Schlimmer, als bei den
Gänsen, befand die Maus. Sie sehnte sich nach der Ruhe, wie sie sonst hier
herrschte und nach den Unterhaltungen, die Gerda und Karl führten. - Wie es schien,
begannen die zwei ein Gespräch, weshalb das Mäuschen sehr still wurde.
„Kaum zu glauben, dass das Weihnachtsfest schon wieder hinter uns liegt.
Die Zeit rast nur so dahin.“
„Das stimmt wohl, Karl. Aber gerade diese Tage, die Zeit zwischen den
Jahren, mag ich ganz besonders. Die Menschen scheinen nachdenklicher zu sein,
als sonst, und eine gewisse Ruhe macht sich breit.“
„Mag sein“, warf Karl grinsend ein, „aber erst, nachdem die Geschenke umgetauscht
wurden.“
Nun musste auch Gerda schmunzeln. „Gewiss! In den Tagen herrscht in den
Geschäften eher Hektik, als Ruhe, da gebe ich dir recht, aber mir scheint
dennoch, dass die Menschen in dieser Zeit darüber nachsinnen, welche
Erinnerungen das alte Jahr hinterlässt und vor allen Dingen beschäftigt viele
die Frage, was das neue Jahr bringen wird.“
Altes Jahr, neues Jahr. Graufellchen wusste nicht so recht, was die
Menschen nun schon wieder meinten. Ihm waren die unterschiedlichen Jahreszeiten
durchaus bekannt und er wusste instinktiv, dass er sich im Winter eine warme
Bleibe suchen musste. Doch was bedeutete ein neues Jahr?
„Es stimmt schon, dass ich auch immer nachdenklich werde. Manchmal denke
ich, dass das neue Jahr und was es für uns bereithält, wie hinter einer dichten
Nebelwand liegt.“
„Du kannst ja richtig poetisch sein!“, freute sich Gerda und fügte
ebenso poetisch an: „Es ist fast so, als schliche sich das alte Jahr auf leisen
Sohlen davon und wir Menschen stehen irgendwie zwischen dem Alten und dem
Neuen.“
„Ich empfinde es auch so, dass diese Zeit durchaus etwas Magisches hat,
Gerda!“
„Ja, nicht wahr! Wir befinden uns ja auch mitten in den Rauhnächten,
also den sechs Nächten des alten und den sechs Nächten des neuen Jahres. Früher
glaubte man übrigens, dass die Naturgesetze in diesen Nächten außer Kraft
gesetzt werden und ebenso, dass diese zwölf Nächte die Monate des neuen Jahres
spiegeln. Also, die erste Nacht vom 25. auf den 26.12., steht dabei für den
Januar und die letzte für den Dezember des neuen Jahres. Deshalb riet man den
Menschen, in den Tagen der Rauhnächte wachsam und vorsichtig sein. Schließlich
beherbergen sie das ganze kommende Jahr.“
„Ich weiß nicht, ob ich dieser Überlieferung glauben schenken soll“, erwiderte
Karl, „aber ich finde durchaus, dass sich diese Zeit des Jahreswechsels
besonders gut eignet, um mit Altem abzuschließen und sich für Neues zu öffnen.“
„Aber eigentlich ist das auch an jedem anderen Tag des Jahres möglich,
Karl.“
„Ja, schon, aber irgendwie passt es besonders gut in diese Zeit.“
Gerda lachte auf: „Die Fitness-Studios werden sicher viele
Neuanmeldungen verzeichnen können.“
Karl nickte bestätigend und Gerda fuhr fort: „Auf jeden Fall würde wohl
jeder gern einen kleinen Blick ins neue Jahr und damit in die Zukunft werfen.
Das zeigen ja auch all die Bräuche, die es gibt. Das Bleigießen am
Silvesterabend zum Beispiel. - Wie auch immer, Karl, es kann nicht schaden, wachsam
zu sein und auch nicht, das eigene Leben hin und wieder unter die Lupe zu
nehmen und sich zu fragen: Bin ich noch zufrieden mit meinem Berufs- und Privatleben
oder sollte ich neue Wege einschlagen.“
„Ich hoffe doch sehr“, meinte Karl, „dass du dir über dein Privatleben
keine Gedanken machst und sicher bist, dass du an meiner Seite bleiben möchtest.“
„Für mich gibt es keinen besseren Platz auf der ganzen Welt!“, entgegnete
Gerda und gab Karl einen dicken Kuss. Graufellchen wurde dabei ganz warm ums Herz.
© Martina Pfannenschmidt, 2017