Inzwischen
wohnte Graufellchen schon einige Tage bei Gerda und Karl zur Untermiete und noch
niemals zuvor in seinem Leben hatte er sich so zufrieden und glücklich gefühlt.
Das lag ganz sicher daran, dass er inzwischen wusste, dass er keinerlei Angst
zu haben brauchte. Bei den beiden war er einfach in Sicherheit. Zumindest
dachte er das bis zu diesem Moment.
Das
Mäuschen beobachtete die Frau des Hauses bei einem eigenwilligen Tun. Sie hatte
ein Tuch in der Hand und wischte damit über Gegenstände. Die Menschen machen
schon komische Sachen, ging es Graufellchen durch den Kopf. Als Gerda diese
Arbeit erledigt hatte, holte sie ein für Mäuse-Verhältnisse riesiges Gerät aus
einem Schrank. Das allein konnte einer Maus schon Angst machen. Doch als Gerda
das Gerät an die Steckdose anschloss, begann Graufellchen zu zittern. Schnell
schnappte er all sein Hab und Gut und quetschte sich in eine Ecke seiner Höhle.
Sogar sein Wollmaus-Bett raffte er zusammen und legte sich auf die dicke
Wollmaus-Kugel. Er schloss die Augen, als Gerda mit dem Gerät an der Fußleiste,
hinter der seine Höhle lag, entlang rauschte und hatte dabei das Gefühl, wie
von einem Sog angezogen zu werden. Mit aller Kraft stemmte er sich dagegen. Bald
darauf war es wieder still in der Wohnung. Was um Himmels Willen, war das? - Mit
bis zum Hals klopfendem Herzen traute er sich Richtung Höhlen-Ausgang.
„Ich
hab nur grad noch durchgesaugt“, ließ Gerda ihren Mann wissen. „Jetzt mach ich
mich auf den Weg ins Altenheim. Du weißt, dass sie dort heute auf mich warten.“
„Geh
nur“, erwiderte Karl und setzte sich mit einem Buch in seinen gemütlichen
Sessel.
„Durchgesaugt!“,
dachte das Mäuschen, „das muss ich mir merken. Wenn Gerda das Gerät noch einmal
benutzt, muss ich auf der Hut sein.“
Ein
Staubsauger, so wusste Graufellchen jetzt, war eine Bedrohung für ihn und nicht
nur das: Kein einziges Krümelchen ließ dieses Monstrum zurück. Nein, mit einem
Staubsauger würde er niemals Freundschaft schließen.
Da
Karl weiterhin in seinem Sessel sitzen blieb, war es Graufellchen nicht möglich,
seine morgendliche Runde durch die Wohnung zu machen. Aber ein bisschen Bewegung
war auch in der Höhle möglich. Also machte er ein paar Kniebeugen, holte zwei
Körner, die er stets als eisernen Vorrat in seinem Bündel mit sich führte,
heraus, und nutzte diese als Hanteln. Nach einiger Zeit standen ihm die
Schweißperlen auf der Stirn. Das war das Zeichen, dass er sich nun wieder ein
bisschen ausruhen durfte.
Graufellchen
musste schmunzeln, weil Gerda, als die den Flur betrat, rief: „Ich bin zurück,
Karl!“
Schon
am Morgen hatte er es lustig gefunden, dass sie Karl kundgetan hatte,
durchgesaugt zu haben; so als hätte er dies überhören können. Vielleicht war
das so etwas wie eine Marotte von ihr.
Das
Mäuschen mochte Gerda sehr und wusste genau, dass sie jetzt ganz gewiss wieder
etwas zu erzählen hätte.
Bald
darauf kam Gerda mit einem Teller, auf dem zwei Orangen lagen, in den Wohnraum.
Sie nahm in dem anderen Sessel Platz und begann, eine Orange zu schälen.
Nicht
nur Graufellchen fiel auf, dass sie schwieg, sondern auch Karl: „Was ist los
mit dir?“, fragte er erstaunt. „So kenne ich dich gar nicht. Meistens bringst
du doch eine Geschichte aus dem Altenheim mit.“
„Auch
heute, Karl, auch heute bringe ich eine Geschichte mit. Allerdings muss ich
sagen, dass mich das Gespräch mit Fritz sehr berührt hat. Es klingt noch nach,
möchte ich sagen.“
„Magst
du mir davon erzählen.“
„Gewiss,
Karl! Lass mir nur ein paar Minütchen.“
Nachdem
die beiden schweigend die Orangen verzehrt hatten, begann Gerda von dem
morgendlichen Gespräch zu erzählen: „Der Fritz hat mir aus seiner Zeit als Kind
erzählt. Wie es war, in einem kleinen Dorf aufzuwachsen. Sie spielten auf der Straße,
weil es kaum Autos gab. Das kennen wir ja auch, nicht wahr. - Reich war seine
Familie damals nicht, aber glücklich. Doch dann veränderte sich sein sorgloses
Leben von heute auf morgen, als der Vater verunglückte und verstarb. Plötzlich
war nichts mehr wie es vorher gewesen war und Fritz sagte den Satz: Mein Leben
war nicht mehr mein Leben.“
„Oh
ja, wie oft verändert sich eine Lebenssituation im Laufe eines Lebens. Oftmals
wird es einem erst in der Rückschau bewusst.“
„Das
war auch bei Fritz so. Immer wenn er dachte: Das ist jetzt mein Leben, kam das
so genannte Schicksal dazwischen und es kam immer knüppeldick für ihn. Seine
Mutter lernte zum Beispiel einen neuen Mann kennen, der dann sein Vater wurde.
Doch der war nicht gut zu ihm. Oft bekam Fritz seine Wut zu spüren. Dieser Mann
war dem Alkohol sehr zugetan, gab viel Geld für Schnaps und dergleichen aus, so
dass es manchmal kaum zum Überleben reichte. Und als ich dachte, noch schlimmer
kann es nicht kommen, erzählte Fritz, dass er von Nachbarn ein paar
Winterschuhe geschenkt bekommen hatte, weil er nur ein paar Sandalen an den
Füßen trug und für neue Schuhe kein Geld da war. Da hat der Stiefvater ihm die
Schuhe abgenommen und verkauft – für eine Flasche Schnaps.“
Karl
seufzte auf: „O mein Gott!“
„Das
Leben hat es wirklich nicht gut mit ihm gemeint“, sagte Gerda mit belegter
Stimme.
„Und
jetzt denkst du, wie viel Glück wir in unserem Leben hatten. Und ob wir das
überhaupt verdient haben. Ist es so?“
Gerda
nickte. „Ja, genau das sind meine Gedanken. Wir können gar nicht dankbar genug
für unser Leben sein, Karl. Wir hatten eine schöne Kindheit, ein glückliches
Leben, sind gesund, haben finanziell keine Sorgen und wir haben uns.“
„Ja,
wir haben uns und das ist ein ganz wertvolles Gut, das wir ja auch zu schätzen
wissen.“
„Doch
eines Tages wird dieses Leben auch nicht mehr unser Leben sein, nicht wahr.“
Karl
nickte. „Lass uns nicht darüber nachdenken, was kommen wird, sondern den
Augenblick genießen, denn das ist im Moment unser Leben.“
„Du
hast recht. Das sollten wir tun. Doch über die Frage, die mir Fritz stellte,
als er zum Essen abgeholt wurde, werde ich noch eine Weile grübeln.“
„Welche
Frage, Gerda?“
„Was
wird sein“, fragte er mich, „wenn auch dieses Leben nicht mehr mein Leben sein
wird?“
©
Martina Pfannenschmidt, 2017