Donnerstag, 7. Dezember 2017

Graufellchen (4) - Hilfe, oft ein schmaler Grat

Satt und glücklich saß Graufellchen in seiner gemütlichen kleinen Höhle. Inzwischen war er ziemlich sicher, dass er im Paradies gelandet sein musste – oder zumindest in der Vorstufe dessen. Menschen, die es gut mit ihm meinten, die ihr Essen mit ihm teilten, gab es sicher nicht viele auf dieser Welt und ER hatte das Glück, bei solchen Menschen Unterschlupf gefunden zu haben. Eine Steigerung dessen war kaum noch möglich. Für ihn war jeder der letzten Tage wie Heiligabend. Eine ‚Bescherung’ folgte der nächsten.
Es war aber nicht nur das leckere Essen, das Graufellchen glücklich machte, er fand auch die Gespräche der beiden Menschen überaus interessant. So hatte er am Abend zuvor begonnen, einige Dinge, die er gehört hatte, in sein Notizbüchlein zu schreiben. Warum, wusste er noch nicht so recht. Aber man kann ja nie wissen, was noch kommt.
Vorsichtig lugte Graufellchen aus seiner Höhle heraus. Die beiden Menschen saßen in ihren gemütlichen Ohrensesseln und gaben eigenwillige Geräusche von sich. Es klang so ein bisschen, wie rrrrrpüh, rrrrrpüh, rrrrrpüh! Lustig hörte sich das an und irgendwie – Graufellchen reckte sich und gähnte dabei herzhaft – wirkte es einschläfernd.
Als das Mäuschen erwachte, saßen die beiden Menschen bei einer Tasse Kaffee und Gebäck am Tisch und waren wieder einmal in einer Unterhaltung vertieft. In der Hoffnung, nicht allzu viel verpasst zu haben, richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Gespräch.
„Ich war immer die Mutter“, erzählte Gerda in diesem Augenblick, „wenn wir als Kinder Familie spielten. Manchmal war ich aber auch eine Ärztin, die ihre Puppe verarzten musste oder den Teddybären, der nur noch ein Auge besaß.“ Dann lachte sie laut auf: „Ich weiß noch, dass ich meine Mutter in den Wahnsinn getrieben habe, weil ich alles mit nach Hause brachte, was in irgendeiner Form Hilfe benötigte: Flugunfähige Vögel, verlassene Babyigel oder ähnliches. Ich hab gar nicht nach ihnen gesucht. Es war fast so, als hätten sie mich gefunden.“
„Dann weiß ich auch, warum du Krankenschwester geworden bist“, meinte Karl.
„Ja, da ist was dran. Ich hab schon immer gerne anderen Menschen und Kreaturen geholfen. Das ist so mein Naturell.“
„Und kein schlechtes“, warf Karl ein und sah seine Frau liebevoll an.
„Dank dir, Karl!“
„Ich denke“, meinte Karl, „dass wir Menschen nicht im Alleingang funktionieren. Bei unseren Steinzeitvorfahren war das noch ganz besonders deutlich und ausgeprägt. Nur wenn es der Gruppe gut ging, ging es allen gut und so achtete man besonders auf den Schwächsten. Man musste dem Kranken helfen, damit nicht die ganze Gruppe erkrankte. Das hatte höchste Priorität. Bestimmt hat noch unser heutiges Verhalten damit zu tun.“
„Möglich! Doch ich denke, manchmal muss man achtsam sein, damit die Hilfe nicht über die eigenen Kräfte hinausgeht.“
„Wie so vieles im Leben ist auch das ein schmaler Grat, meine Liebe. Aber sag selbst: Das Wörtchen Danke ist einfach ein schönes Wort und gebraucht zu werden ist einfach ein tolles Gefühl.“
„Worauf man sicher auch achten muss ist die Tatsache, nicht ausgenutzt zu werden, von Kollegen zum Beispiel, die ihre Arbeit gerne auf einen Menschen abwälzen, der nicht ‚Nein’ sagen kann und selbstverständlich gerne hilft. Aber irgendwann fühlt es sich für den Helfenden nicht mehr gut und richtig an, doch er schafft es nicht, die Bitte auszuschlagen.“
„Oh ja, das kenne ich nur zu gut. Aber noch eine Gefahr besteht, nämlich die, dass man zum Beispiel einen tollen Job im Ausland ausschlägt, weil man ja ‚angeblich’ den Eltern helfen muss. Weißt du, wie ich es meine, Gerda? Dass man das als Grund vorschiebt, jedoch nie wirklich plante, den Job tatsächlich anzunehmen.“
„Ja, ich verstehe, wie du das meinst. Aber es ist halt so, dass unser Verantwortungsgefühl umso größer ist, je näher uns ein Mensch steht. Stell dir vor, einer von uns würde schwer erkranken; dann wäre der andere wie selbstverständlich für den Kranken da. Ich glaube, wir sollten uns versprechen, dass unsere Hilfe nicht auf Kosten der Gesundheit des anderen gehen darf.“
„Das versprechen wir uns und hoffen gleichzeitig, dass dieser Tag niemals kommen mag.“
„Ja, das hoffen wir. Doch wenn es anders kommen sollte, werden wir es auch schaffen. Schau, wir haben uns immer gegenseitig unterstützt und das ist ja nur ein anderes Wort für helfen. Letzten Endes ist aber jeder Mensch für sein eigenes Leben selbst verantwortlich. Und wenn man sich nicht stark genug fühlt, um dem anderen zu helfen, dann ist es nicht egoistisch, sondern vernünftig, auch mal ‚Nein’ zu sagen.“
„Wir werden uns und anderen helfen, solange wir können, nicht wahr. Und dies tun wir nicht für unser Ego, sondern aus tiefstem Herzen.“
Dem war nichts mehr hinzuzufügen.

© Martina Pfannenschmidt, 2017