Satt
und glücklich saß Graufellchen in seiner gemütlichen kleinen Höhle. Inzwischen
war er ziemlich sicher, dass er im Paradies gelandet sein musste – oder
zumindest in der Vorstufe dessen. Menschen, die es gut mit ihm meinten, die ihr
Essen mit ihm teilten, gab es sicher nicht viele auf dieser Welt und ER hatte
das Glück, bei solchen Menschen Unterschlupf gefunden zu haben. Eine Steigerung
dessen war kaum noch möglich. Für ihn war jeder der letzten Tage wie
Heiligabend. Eine ‚Bescherung’ folgte der nächsten.
Es
war aber nicht nur das leckere Essen, das Graufellchen glücklich machte, er
fand auch die Gespräche der beiden Menschen überaus interessant. So hatte er am
Abend zuvor begonnen, einige Dinge, die er gehört hatte, in sein Notizbüchlein
zu schreiben. Warum, wusste er noch nicht so recht. Aber man kann ja nie
wissen, was noch kommt.
Vorsichtig
lugte Graufellchen aus seiner Höhle heraus. Die beiden Menschen saßen in ihren
gemütlichen Ohrensesseln und gaben eigenwillige Geräusche von sich. Es klang so
ein bisschen, wie rrrrrpüh, rrrrrpüh, rrrrrpüh! Lustig hörte sich das an und
irgendwie – Graufellchen reckte sich und gähnte dabei herzhaft – wirkte es einschläfernd.
Als
das Mäuschen erwachte, saßen die beiden Menschen bei einer Tasse Kaffee und
Gebäck am Tisch und waren wieder einmal in einer Unterhaltung vertieft. In der
Hoffnung, nicht allzu viel verpasst zu haben, richtete er seine Aufmerksamkeit
auf das Gespräch.
„Ich
war immer die Mutter“, erzählte Gerda in diesem Augenblick, „wenn wir als
Kinder Familie spielten. Manchmal war ich aber auch eine Ärztin, die ihre Puppe
verarzten musste oder den Teddybären, der nur noch ein Auge besaß.“ Dann lachte
sie laut auf: „Ich weiß noch, dass ich meine Mutter in den Wahnsinn getrieben
habe, weil ich alles mit nach Hause brachte, was in irgendeiner Form Hilfe
benötigte: Flugunfähige Vögel, verlassene Babyigel oder ähnliches. Ich hab gar
nicht nach ihnen gesucht. Es war fast so, als hätten sie mich gefunden.“
„Dann
weiß ich auch, warum du Krankenschwester geworden bist“, meinte Karl.
„Ja,
da ist was dran. Ich hab schon immer gerne anderen Menschen und Kreaturen
geholfen. Das ist so mein Naturell.“
„Und
kein schlechtes“, warf Karl ein und sah seine Frau liebevoll an.
„Dank
dir, Karl!“
„Ich
denke“, meinte Karl, „dass wir Menschen nicht im Alleingang funktionieren. Bei
unseren Steinzeitvorfahren war das noch ganz besonders deutlich und ausgeprägt.
Nur wenn es der Gruppe gut ging, ging es allen gut und so achtete man besonders
auf den Schwächsten. Man musste dem Kranken helfen, damit nicht die ganze
Gruppe erkrankte. Das hatte höchste Priorität. Bestimmt hat noch unser heutiges
Verhalten damit zu tun.“
„Möglich!
Doch ich denke, manchmal muss man achtsam sein, damit die Hilfe nicht über die eigenen
Kräfte hinausgeht.“
„Wie
so vieles im Leben ist auch das ein schmaler Grat, meine Liebe. Aber sag
selbst: Das Wörtchen Danke ist einfach ein schönes Wort und gebraucht zu werden
ist einfach ein tolles Gefühl.“
„Worauf
man sicher auch achten muss ist die Tatsache, nicht ausgenutzt zu werden, von
Kollegen zum Beispiel, die ihre Arbeit gerne auf einen Menschen abwälzen, der
nicht ‚Nein’ sagen kann und selbstverständlich gerne hilft. Aber irgendwann
fühlt es sich für den Helfenden nicht mehr gut und richtig an, doch er schafft
es nicht, die Bitte auszuschlagen.“
„Oh
ja, das kenne ich nur zu gut. Aber noch eine Gefahr besteht, nämlich die, dass
man zum Beispiel einen tollen Job im Ausland ausschlägt, weil man ja ‚angeblich’
den Eltern helfen muss. Weißt du, wie ich es meine, Gerda? Dass man das als
Grund vorschiebt, jedoch nie wirklich plante, den Job tatsächlich anzunehmen.“
„Ja,
ich verstehe, wie du das meinst. Aber es ist halt so, dass unser
Verantwortungsgefühl umso größer ist, je näher uns ein Mensch steht. Stell dir
vor, einer von uns würde schwer erkranken; dann wäre der andere wie
selbstverständlich für den Kranken da. Ich glaube, wir sollten uns versprechen,
dass unsere Hilfe nicht auf Kosten der Gesundheit des anderen gehen darf.“
„Das
versprechen wir uns und hoffen gleichzeitig, dass dieser Tag niemals kommen
mag.“
„Ja,
das hoffen wir. Doch wenn es anders kommen sollte, werden wir es auch schaffen.
Schau, wir haben uns immer gegenseitig unterstützt und das ist ja nur ein
anderes Wort für helfen. Letzten Endes ist aber jeder Mensch für sein eigenes
Leben selbst verantwortlich. Und wenn man sich nicht stark genug fühlt, um dem
anderen zu helfen, dann ist es nicht egoistisch, sondern vernünftig, auch mal
‚Nein’ zu sagen.“
„Wir
werden uns und anderen helfen, solange wir können, nicht wahr. Und dies tun wir
nicht für unser Ego, sondern aus tiefstem Herzen.“
Dem war nichts mehr hinzuzufügen.
©
Martina Pfannenschmidt, 2017