Graufellchen
wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Gerda rief:
„Das
Essen ist fertig, Karl!“
Daraufhin
legte dieser seine Zeitung beiseite, ging zu seiner Frau in die Küche und beide
trugen gemeinsam das Essen auf. Im selben Moment zog ein wunderbarer Duft in
die kleine Mausehöhle. Hmmm, roch das lecker. Hoffentlich fiel davon eine Kleinigkeit
unter den Tisch. Ob sich aber noch einmal die Gelegenheit ergäbe, das Begehrte auch
zu holen, das wusste Graufellchen natürlich noch nicht. So blieb ihm im Moment
nichts anderes übrig, als das zu tun, was er vorhin schon getan hatte: Zuhören!
„Hast
du eigentlich mal wieder etwas von Magda gehört?“, wollte Karl wissen.
„Ja,
ich hab sie vor ein paar Tagen beim Einkaufen getroffen. Sie war auf der Suche
nach einem passenden Adventskalender für ihren Enkel. Ich muss sagen, wir waren
beide sehr erstaunt über die Vielfalt, die in dieser Hinsicht heutzutage
herrscht. Wenn ich da an die Adventszeit in früheren Jahren denke; dass lässt sich
gar nicht mehr vergleichen. Manchmal finde ich es schon übertrieben, muss ich
gestehen. Es gibt ja kaum noch Kalender, die nur noch Schokolade enthalten.
In vielen gibt es täglich ein Spielzeug. Da ist eine Steigerung am Heiligabend
ja kaum noch möglich!“
„Sehe
ich ähnlich. Aber es gibt ja nicht nur Kalender für Kinder, sondern auch für
Erwachsene. Gefüllt mit Creme, Nagellack und anderen Dingen mehr. Ich hab grad
kürzlich in einem Bericht gehört, dass der teuerste Adventskalender der Welt
2,5 Millionen Euro kostet. Er enthält 24 hochkarätige Diamanten. Und für 11.000
Dollar gibt es einen, der mit Whiskey gefüllt ist. Also, der könnte mir auch
gefallen.“
„Du
scherzt hoffentlich, Karl.“
„Ja,
natürlich.“
„Und
auch zum Nikolaustag gibt es oft Geschenke, die gar nicht mehr in einen Stiefel
hinein passen. Das war zu unserer Zeit ganz anders. Da gab es Nüsse oder
Äpfel.“
„Ja,
aber nicht nur das. Es gab auch die Androhung von Strafe. Dieses
Erziehungsmittel wird heutzutage wohl nicht mehr eingesetzt und wenn, dann in
abgeschwächter Form. Es macht doch auch keinen Sinn, wenn ein Mann, der als
Barmherziger gilt und Gutes tut, Kinder bestraft.“
„Oh,
ich erinnere mich, wie ängstlich ich war, wenn der Gute unser Haus betrat.
Meine Stimme zitterte oft vor Angst, wenn ich mein kleines Gedicht aufgesagt
habe.“
„Brachte
der Nikolaus bei euch auch Geschenke für die Erwachsenen?“
Gerda
überlegte: „Das weiß ich gar nicht mehr.“
„Ich
kann mich erinnern“, meinte Karl, „dass er den Mägden und Knechten nützliche
Dinge brachte. Eine Schürze oder Socken zum Beispiel. Das war dann sozusagen
ein Teil ihres mageren Lohnes.“
„Nein,
daran erinnere ich mich nicht. Aber an den Begleiter, Knecht Ruprecht, nur zu
gut. Er war ja der, der die angekündigte Strafe ausführte. Den Kindern wurde ja
nicht nur mit der Rute gedroht, sondern man drohte auch, sie in den
mitgebrachten Sack zu stecken und mitzunehmen. Aus heutiger Sicht eine wirklich
fragwürdige Erziehungsmethode.“
„Sehr
fragwürdig, meine Liebe. Ich glaube, dass es Kinder psychisch ziemlich unter
Druck setzt, wenn man ihnen derart droht. Ganz sicher entstehen so arge Ängste.“
„Es wäre
ganz bestimmt besser, wenn die Eltern den Kindern vermitteln könnten, dass sie
gerade dann hinter ihnen stehen, wenn mal etwas schief läuft und dass sie sie
immer lieben, egal, wie sie sich verhalten.“
„Das wäre
natürlich der Idealzustand, aber ich fürchte, von dem sind wir ein ganzes
Stückchen entfernt.“
Als beide
ihren Nachtisch löffelten, fragte Karl: „Sag mal Gerda, was ist das denn da eigentlich
für ein kleines Häufchen auf deinem Eßteller?“
„Pssst,
nicht so laut. Ich möchte unseren Untermieter überraschen“, flüsterte sie.
Graufellchen
hatte es dennoch gehört und spitze seine Ohren noch mehr. Er sah, dass sich die
Frau erhob und zu dem großen Schrank ging. Als sie zurück zum Tisch kam, lachte
Karl auf: „Das ist nicht dein Ernst, Gerda.“
„Und ob!“,
erwiderte sie.
Auf dem
Tisch stand ein kleiner Puppenteller. Vorsichtig brachte sie das kleine
Häufchen Schinkenspeck, das sie auf ihrem Teller für Graufellchen beiseite
geschafft hatte, darauf unter und stellte ihn neben ein Stuhlbein.
„Komm
Karl, lass uns in die Küche gehen. Wir müssen noch abwaschen.“ Das sagte Gerda
viel lauter, als üblich. Sie wollte einfach sicher gehen, dass das Mäuschen es
auch hörte.
Dann
verschwanden die beiden Menschen Richtung Küche. Blitzschnell rannte
Graufellchen zu der Leckerei, während Gerda sich hinter der Tür verschanzte, die
Szene schmunzelnd beobachtete und dachte: „Zur Nacht werde ich ihm ein
Schälchen mit Wasser hinstellen.“
Martina
Pfannenschmidt, 2017