Starr
vor Angst rührte sich Graufellchen keinen Millimeter von der Stelle. Was würde jetzt
wohl geschehen? Würden die zwei Menschen sich auf die Suche nach ihm machen? Hatten
sie ihn vielleicht schon entdeckt? Bestimmt würde die Frau laut schreien, wenn
ihr Mann den Verdacht, den er hatte, aussprach. Das war Graufellchen
hinlänglich bekannt. Frauen stießen meistens spitze Schreie aus, wenn sie auf
ihn oder seinesgleichen trafen. Das verstand das Mäuschen nicht. Es empfand
sich weder als hässlich, noch als aggressiv. Warum nur reagierten viele Menschen
derartig auf seine Gattung?
Dieser
Frage würde er ein anderes Mal nachgehen. In Anbetracht seiner derzeitigen Situation
war es auch völlig gleichgültig. Ihn interessierte nur eines: Würde der Mann
ihn aus seinem Versteck jagen, ihm auflauern oder gar eine Mausefalle
aufstellen? Allein bei dem Gedanken daran begann Graufellchen zu zittern. Er
wollte doch nichts weiter, als ein warmes Plätzchen jetzt im kalten Winter. Er
würde doch wirklich niemanden belästigen. Außerdem war er friedliebend und sehr
genügsam. Ihm reichten, so wie am Morgen, ein paar Krümel unter dem Tisch.
Nachdem
tausend Gedanken durch seinen Kopf gejagt waren, besann er sich. Noch war er
nicht entdeckt, da war er sich ziemlich sicher. Er würde sich weiterhin sehr
still verhalten und abwarten. Am besten wäre es, wenn er es so hielt, wie am
Tag zuvor. Er musste unbedingt wissen, was die Menschen planten. Deshalb hörte
er aufmerksam hin. Und was hörte er? Einen Aufschrei! Natürlich! Er hatte es
geahnt! Allerdings klang er nicht ängstlich, sondern eher erfreut.
„Oh,
nein, Karl, du denkst doch nicht, dass wir ein Mäuschen zu Besuch haben?“
„Doch
allerdings, das denke ich.“
„Erinnerst
du dich an unsere erste winzige Wohnung?“
„Natürlich,
erinnere ich mich und auch an das Mäuschen, das sich bei uns eingemietet hatte.
Es war nach einiger Zeit so zutraulich, dass es uns fast aus der Hand fraß.“
„Das
war so fantastisch. Wer weiß, vielleicht ist das ein Nachkomme unserer ersten
Maus.“
Karl
lachte.
„Du
kommst auf Ideen, meine Liebe. - Egal, wer bei uns Unterschlupf sucht, wir
werden unsere Wohnung mit ihm teilen, nicht wahr, Gerda!“
„Ganz
gewiss!“
Das
Mäuschen traute seinen Ohren kaum. Sollte es tatsächlich im Paradies gelandet
sein? Graufellchen war allerdings nicht auf den Kopf gefallen und so ging ihm
durch denselben, dass das durchaus eine taktische Maßnahme der Menschen sein
konnte, um ihn in Sicherheit zu wiegen und aus seinem Versteck zu locken. Und
dann … wumm … Schläge mit dem Besen. Nein, nein, so dumm war er nicht. Im
Moment traute er dem Braten noch nicht. Er würde weiterhin die Augen und Ohren offen
halten.
„Nun“,
sagte Gerda, „jetzt wo wir die Sache geklärt haben, könnten wir uns daran
machen, unser Mittagessen zuzubereiten. Hilfst du mir in der Küche, Karl?“
„Gewiss!“
Mist!
Jetzt gingen die beiden in die Küche. Von seinem jetzigen Platz aus konnte
Graufellchen sie weder hören, noch sehen. Das gefiel ihm keineswegs. Was sollte
er tun? Wenn er noch einmal hinter dem Schrank herlief und auf ganz leisen
Sohlen über den Flur, könnte er sich hinter der Tür verstecken und lauschen. Ob
er sich das traute? - Seine
Neugier war größer, als seine Angst und so traute er sich und lauschte gespannt
der Unterhaltung der beiden Menschen.
„Ist
es nicht einfach nur schrecklich, dass heute kaum noch jemand wirklich zuhören
kann?“, beklagte Gerda.
Karl
nickte.
„Hast
du mitbekommen, dass wieder einmal über unsere Nachbarn getratscht wurde?“
„Gewiss!“
„Und
dann dieses ständige Jammern und Klagen. Es ist oft gar nicht so einfach, sich
da heraus zu halten. Aber ich möchte mich einfach nicht in derartiges Gerede
hineinziehen lassen. Es tut mir einfach nicht gut, weißt du.“
„Ja,
ich weiß. Geht mir ähnlich.“
„Ich
kann es oft einfach nicht verhindern, dass ich mich darüber ärgere und weißt du,
was dann passiert?“
„Nein!“
„Ich
ärgere mich darüber, dass ich mich ärgere.“
Die
beiden lachten.
„Manchmal
ist es einfach besser zu schweigen, nicht wahr. Kaum jemand geht heutzutage
noch achtsam mit Sprache um und kaum jemandem gelingt es, auch mal still zu
sein. Ich weiß, dass das gar nicht so einfach ist und ich habe mich auch schon
oft gefragt, wie lange ich es wohl in einem Schweigekloster aushalten würde.
Stille ist manchmal schwer zu ertragen.“
„Ich
denke“, meinte Karl nach einer Zeit des Schweigens, „dass es zunächst einmal
wichtig ist, anderen zuzuhören. Danach können wir entscheiden, ob wir sprechen
oder schweigen wollen.“
„Ich
gebe dir recht. Zuhören ist wichtig. Doch was passiert, wenn uns das Gesagte nicht
gefällt? Die Gefahr, dass wir ins Urteilen verfallen, ist in diesen Momenten
groß: ‚Der ist aber ganz schön arrogant’ oder ‚Der spinnt doch’ oder ‚Der
sollte sich mal an seine eigene Nase fassen’.“
„Wir
können oft nicht verhindern, dass diese Gedanken kommen, Gerda. Aber wir
können ja versuchen, ihnen keine Beachtung zu schenken.“
„Gar
nicht so einfach, Karl!“
„Reden
ist Silber, Schweigen ist Gold, sagt man, nicht wahr?“
„Vielleicht
nicht immer, Karl. Manchmal ist es besser, etwas zu sagen, anstatt zu
schweigen. Ich denke, dass wir diese Entscheidung immer wieder nach unserem
Gefühl fällen sollten.“
Karl
schnippelte eine Zwiebel in feine Würfelchen, weshalb ihm die Tränen kamen.
Dann meinte er: „Wir Menschen bedenken oft gar nicht, dass wir Worte, die wir
ausgesprochen haben, nicht zurückholen können. Gesagt ist gesagt. Und so
manches Mal werden wir vorher nicht geprüft haben, ob unsere Worte von Güte geprägt
sind, bevor wir sie aussprechen.“ Karl übergab die Zwiebeln an seine Frau:
„Kann ich noch mehr für dich tun, meine Liebe?“
„Geh
nur“, erwiderte Gerda und ihre Stimme klang unglaublich sanft. „Ich weiß ja,
dass du die Zeitung noch lesen möchtest.“
Das
war Graufellchens Stichwort. Wie ein Blitz verkroch er sich in seine kleine
Höhle, legte sich auf sein gemütliches Bett und sann über das Gehörte nach.
©
Martina Pfannenschmidt, 2017