Mittwoch, 29. November 2017

Graufellchen (1) - Zur Untermiete

Allmählich wurde es für Graufellchen Zeit, sich ein warmes Plätzchen für den Winter zu suchen. Stückchen für Stückchen hatte er sich inzwischen in dem Mauerwerk vorgearbeitet. Ein kleiner Spalt in den Fugen genügte, um sich einen Weg, der nach innen und damit ins Warme führte, zu suchen. All sein Hab und Gut trug er in einem kleinen Bündel bei sich.
Nach einer kurzen Verschnaufpause nahm er noch einmal all seine Kraft zusammen und tatsächlich erreichte er nach kurzer Zeit der Anstrengung einen kleinen Hohlraum. Hier gefiel es ihm. Es war wunderbar warm und er würde sich einmal umsehen, wo genau er gelandet war. Mit ganz viel Glück könnte er vielleicht hier den kalten Winter über wohnen.
Der Mäuserich legte seine Sachen beiseite und lugte vorsichtig durch eine kleine Öffnung. Er schaute direkt in einen sehr hellen und gemütlich eingerichteten Raum. Vier Menschenbeine konnte er erkennen, die an einem Esstisch saßen. Auf dem Tisch mussten herrliche Leckereien stehen, denn es duftete ganz wunderbar. Dem Mäuschen knurrte sogleich der Magen. Hoffentlich verriet es sich dadurch nicht.
Von seiner Mutter wusste Graufellchen, dass man als Maus nicht nur vor Katzen auf der Hut sein musste, sondern ganz besonders vor Menschen. Sie waren die größten Feinde der meisten Tiere. Doch man erzählte sich in Mäusekreisen, dass es auch Ausnahmen gäbe. Manche Menschen würden keinem Tier etwas zuleide tun. Ach, wie schön wäre es, hier den Winter über verbringen zu dürfen, ohne Angst vor herzlosen Menschen oder Katzentieren.
Graufellchen spitzte die Ohren. Vielleicht konnte er der Unterhaltung der beiden etwas entnehmen.
„Vorhin habe ich eine interessante Parabel gelesen“, sagte die eine Person, die zu zwei der Menschenbeine gehörte, die Graufellchen von seinem Platz aus sehen konnte.
„Erzähl mir davon, Gerda!“, bat die andere Person, die zu den zwei weiteren Beinen gehörte.
„Vielleicht kennst du sie schon“, meinte die Person, deren Namen Graufellchen jetzt schon kannte.
„Wir werden sehen!“
Gerda begann, von der Parabel zu erzählen: „In einem großen Saal befanden sich tausend Spiegel. Eines Tages schaute ein Hund in diesen Raum hinein und erschrak, als ihn tausend andere Hunde anschauten. Sofort bekam er Angst, sträubte sein Nackenfell, fletschte die Zähne und knurrte.“
An dieser Stelle machte die Frau mit dem schönen Namen Gerda eine Pause und die andere Person mit der tieferen Stimme meinte: „Und plötzlich fletschten all die tausend anderen Hunde ebenfalls ihre Zähne, nicht wahr.“
„Wie recht du hast, Karl, aber warte nur, die Geschichte geht ja noch weiter: Einige Zeit später trat ein anderer Hund in den Saal. Er sah ebenfalls tausend andere Hunde, freute sich über so viele Spielgefährten und wedelte vor lauter Freude mit dem Schwanz.“
„Und tausend andere freundliche Hunde wedelten zurück!“ Die Freude über die Wendung dieser kleinen Geschichte war Karls Stimme anzuhören.
„Ich wurde bei dieser kleinen Erzählung an meinen Vater erinnert“, meinte Gerda, „der zu sagen pflegte: Die Welt ist ein Spiegel deiner selbst.“
„Oh ja, wer in der Welt nur Hass und Verzweiflung sieht und auch sät, der wird genau dem begegnen und wer sich an allem erfreut und lächelnd durch die Welt geht, dem wird sie lauter glückliche und liebevolle Seiten zeigen. Die Welt spiegelt oder reflektiert unsere Gedanken und Taten, nicht wahr, Gerda.“
„Genau so verhält es sich, mein Liebster!“
Graufellchen wurde ganz warm ums Herz. Das mussten wirklich nette Menschen sein, die auf der anderen Seite der Mauer lebten und die so herrlich duftendes Essen zu sich nahmen.
Und schon wieder knurrte sein Bauch. Vorsichtig öffnete er daraufhin sein Bündel. Ein kleines Stückchen trockener Brotkruste kam dabei zum Vorschein. Sie roch zwar nicht so lecker, doch sie würde den Hunger stillen. Morgen müsste er sich in jedem Fall auf die Suche nach etwas Essbarem machen. Ob er hier ein sicheres Zuhause für den Winter gefunden hatte? Es wäre einfach zu schön!
Graufellchen nahm ein kleines Kissen aus dem Bündel, bettete sich darauf und schlief sogleich selig ein.
Als er wieder erwachte, liefen die Beine, die er nun schon kannte, durch den hellen Raum. 
„Lass die Krümel nur unter dem Tisch liegen, Karl. Wir sollten uns besser auf den Weg machen. Es wäre mir nicht recht, wenn wir uns verspäten.“
Karl stellte den Besen zurück, nahm seine Jacke vom Haken und beide verließen die Wohnung.
Sollte die Luft nun tatsächlich rein sein? Vorsichtig setzte Graufellchen einen Fuß in das große Zimmer. Beim Anblick all der Leckereien, die sich unter dem Tisch befanden, vergaß er seine Angst und stürzte sich heißhungrig darauf. So viele leckere Brötchenkrümel und sogar ein winzig kleines Stückchen Käse vernaschte er.
Als er satt war, wurde er immer mutiger. Er sah sich in dem Raum um. Alles deutete darauf hin, dass er bei einem älteren Ehepaar zur Untermiete wohnte: Auf dem Boden standen karierte Filzpantoffeln und auf einem kleinen Tischchen lagen Bücher und eine Zeitung. Daneben zwei Lesebrillen.
Als er einen großen Schrank entdeckte, zwängte er sich zwischen Wand und dem Schrank an der Fußleiste entlang. Auf diese Weise sammelte er all die Wollmäuse ein, die sich dort befanden. Mit seiner kleinen Fellnase stupste er seinen Fund in die winzige Höhle und baute sich daraus ein wunderbar warmes und flauschig weiches Bett.
Gerade in dem Moment, als er sich auf den Weg Richtung Küche machen wollte, wurde die Wohnungstür geöffnet. So schnell es ihm möglich war, huschte er durch das angrenzende Zimmer zurück in seine kleine Höhle, die er gerade noch rechtzeitig und mit klopfendem Herzchen erreichte.
Nach einer Weile fragte die Frau des Hauses: „Karl, hast du vorhin doch noch die Krümel weggefegt?“
„Nein, ich sollte doch nicht!“, erwiderte dieser.
„Das ist aber komisch. Schau, kein einziges Krümelchen liegt mehr dort.“
„Das kann nur eines bedeuten“, meinte Karl und legte eine kleine Pause ein, „wir haben einen Untermieter.“
Graufellchen rutschte bei diesen Worten das Herz in die Hose. War es nach so kurzer Zeit schon vorbei mit der Herrlichkeit? Oder hatte gar sein letztes Stündchen geschlagen?

© Martina Pfannenschmidt, 2017