Donnerstag, 9. November 2017

Wertschätzung

Heute hatte Oma einen Termin bei ihrem Friseur. Sie war schon als Kind in diesen kleinen Frisiersalon gegangen. Die Enkelin des früheren Inhabers, die ihr so freundlich aus dem Mantel half, kannte sie schon von Geburt an. Oma ging zu dem Sessel, in dem sie immer saß und wie so oft war sie auch heute viel zu früh dran. Sie lächelte darüber. Noch vor ein paar Jahren hatte sie sich stets über die älteren Menschen amüsiert die ständig zu früh erschienen. Vielleicht lag es einfach daran, dass man eigentlich keine Termine mehr hatte und wenn doch, brachten sie einen ein wenig in Unruhe.
Um Oma die Wartezeit zu verkürzen, gab ihr die junge Frau eine Zeitschrift in die Hand, in der Oma uninteressiert blätterte. Was in den Königshäusern der Welt so vor sich ging, interessierte sie nicht sonderlich.
Doch nun fiel ihr Blick auf einen Artikel mit einer anziehenden Überschrift. Sie begann zu lesen: ‚Eine wertschätzende Führung von Mitarbeitern beginnt mit der eigenen Wertschätzung. Wer sich selbst nicht wertschätzt, dem wird es auch nicht gelingen, den Wert eines anderen Menschen zu erkennen.’ Donnerwetter! Oma blätterte zurück zur Titelseite. Eine solche Aussage hatte sie in diesem Schmökerblatt nicht erwartet. Hoffentlich wurde dieser Artikel von vielen Vorgesetzten gelesen und beachtet.
Bereits nach kurzer Zeit wurde sie von Frau Müller bedient. Oma kannte sie schon lange und wusste, dass nun die Frage käme, was es Neues gäbe. Doch sie hielt sich wie immer zurück und lauschte lieber dem, was die Friseurin zu erzählen hatte.
Als Oma wieder zu Hause war und ihren Mantel ablegte, öffnete Kathrin die Haustür. Gemeinsam gingen sie zu Kathrins Mutter, die bereits mit dem Mittagessen auf sie wartete.
Oma dachte über das, was sie beim Friseur gelesen hatte, nach. Sie wusste es zu würdigen, jetzt eine warme Mahlzeit serviert zu bekommen und auch die Gemeinschaft mit ihrer Familie schätzte sie sehr. Dies sagte sie ihrer Tochter und so waren die beiden Frauen sehr schnell in ein Gespräch über das Thema ‚Wertschätzung’ vertieft.
„Wenn die Menschen die Erde mehr wertschätzen würden“, meinte Kathrins Mutter, „gäbe es nicht so viele Katastrophen. Die sind doch alle von uns Menschen gemacht. Wir denken auch gar nicht mehr darüber nach, wie wertvoll es ist, frisches Trinkwasser zu haben. Das wird uns erst wieder bewusst, wenn es uns einmal nicht zur Verfügung steht.“
„Wir nutzen es ja nicht nur zum Trinken und Kochen“, gab Oma zu bedenken, „wir nutzen das gute Trinkwasser ja auch zum Duschen, Baden, Putzen und Wäschewaschen und nehmen dies alles wie selbstverständlich hin.“
„Was mich noch aufregt“, empörte sich Kathrins Mama, „ist die Tatsache, dass die meisten Menschen so tun, als sei unsere Erde tot“.
Kathrin horchte auf. „Wieso? Denkst du sie lebt?“
„Natürlich lebt sie. Könnte denn etwas Totes Leben gebären?“
„Wie meinst du das?“, hakte Kathrin nach.
„Schau dich um. Das Gras, die Blumen, die Bäume, das Getreide, einfach alles, was aus der Erde wächst, lebt. Wäre die Erde tot, wäre dies nicht möglich. Aus toter Materie kann kein neues Leben entstehen. Auch die Steine sind nicht tot. Nimm einen Stein in die Hand und du wirst seine Energie spüren. Und überleg nur, wie viele Tiere unter der Erde leben. Wir alle: Menschen, Tiere, Pflanzen existieren von der Erde und dem, was sie hervorbringt. Doch wir tun vieles dafür, dass es eines Tages nicht mehr so sein wird. Wenn unser Planet stirbt, stirbt auch alles was auf, in und unter ihm vorhanden ist.“
Kathrin wurde ganz mulmig zumute. Ihre Mutter hatte sich jetzt richtig in Rage geredet.
„Was nützt es uns, wenn die Politiker die Katastrophengebiete der Welt besichtigen und den Handlungsbedarf erkennen, dann jedoch wieder nichts ändern? Alle verheddern sich in den Gesetzen und Paragraphen die sie selbst gemacht haben. Manchmal finde ich das Ganze – Entschuldigung – zum Kotzen.“
O weh, jetzt hatte Mama aber wirklich in die unterste Schublade ihres Vokabulars gegriffen.
„Du hast ja recht, mein Kind“, versuchte Oma ihre Tochter zu beruhigen, „aber nur zu schimpfen und nichts zu ändern, das hilft auch niemandem“.
„Da stimme ich dir zu. Doch wenn wir von Wertschätzung sprechen, sollten wir auch daran denken, wie wertvoll es ist, dass wir hier im Frieden leben. Wir wissen doch gar nicht, was es wirklich bedeutet, im Kriegszustand zu leben. Ich bin immer ganz erschüttert, wenn Menschen von Kriegen berichten. Wie viel Leid und Not mussten sie ertragen. Alle: Männer, Frauen, Kinder. Manchmal spielen wir zu sehr mit dem Feuer, denke ich. Wie schnell entzündet sich so ein Krieg. Jeden Tag berichten die Medien darüber. Und weshalb bekriegen sich die Menschen überhaupt? Weil sie einen anderen Glauben haben, wegen eines Stückchens Land oder weil ein Irrsinniger es schafft, ein ganzes Volk aufzuhetzen. Wie leichtsinnig gehen wir miteinander und mit unserer Welt und dem Frieden um.“
„Frieden beinhaltet noch mehr, als nur den Frieden zwischen den Völkern“, gab Oma zu bedenken. „Denk an die Kleinkriege, die wir führen, in unseren Familien, mit den Nachbarn, am Arbeitsplatz. Und da schließt sich wieder der Kreis. Wir sollten unseren Mitmenschen mehr Wertschätzung entgegen bringen.“
„Ja, das sollten wir, da gebe ich dir durchaus Recht. Doch andererseits: Bei manchen Menschen fällt es wirklich nicht leicht.“
Oma ließ den Satz im Raum stehen und dachte darüber nach. Unsere Lebensaufgaben waren vielfältig und dazu gehörte sicher auch, andere Menschen so anzunehmen, wie sie nun mal waren. Was hatte sie zornig, aggressiv oder gar gewalttätig werden lassen? Die Erziehung, das Umfeld, ihre Weltanschauung, falsch verstandene Religiosität?


© Martina Pfannenschmidt, 2015