Wütend
stapfte Ines Richtung Abstellraum, wo sich ihre Putzutensilien befanden.
„Warum
kümmert der sich eigentlich nicht um
seinen eigenen Kram?“, rumorte es in ihrem Kopf. Wieder einmal hatte ihr Mann es
geschafft, sie mit einer Bemerkung zu provozieren.
Bevor er seine Aktentasche genommen hatte, um das Haus zu verlassen, hatte er
so ganz nebenbei erwähnt, dass sie die Fenster auch mal wieder putzen könnte.
Blödmann! Sie hatte ja auch noch etwas anderes zu tun, als nach jedem
Regenschauer die Fenster zu putzen.
Neidisch blickte sie hinüber auf
das Nachbarhaus. Dort wohnten Marlene und Frank. Die konnten sich für ihren
großen Bungalow einen Fensterputzer leisten und auch eine Raumpflegerin. Dabei
machte dort gar niemand etwas dreckig. Sven war oft bis spät in der Nacht aus
dem Haus und auch Marlene war selten zuhause anzutreffen. Ihr Tag bestand daraus,
shoppen zu gehen oder Termine beim Friseur oder der Maniküre wahrzunehmen. Ja
und Sport zu treiben natürlich. Nicht einmal kochen musste sie. Sven aß oft mit
Geschäftsfreunden außerhalb, während Madame sicherlich nur an einer Möhre knabberte.
Manchmal gingen sie abends gemeinsam in ein Lokal oder trafen sich mit Freunden.
Das hatte Ines schon oft beobachtet. Soooo ein feines Leben wünschte sie sich
auch. Ihr Alltag sah komplett anders aus.
Ines
dachte zurück an den Tag, als sie und Marlene sich nach vielen Jahren hier als
Interessenten der Grundstücke wieder gesehen hatten. Wer hätte gedacht, dass
sie eines Tages wieder Nachbarn sein würden, so wie es zu ihren Kindertagen
auch war. Damals waren sie beste Freundinnen, saßen in der Grundschule sogar
nebeneinander.
Die
Gedanken von Ines wanderten in diese Zeit zurück. Ob es Marlene bewusst war,
dass das Schicksal es stets gut mit ihr gemeint hatte? Sie führte ein verdammt
beneidenswertes Leben. Damals schon. Immer war Marlene größer, schlanker,
hübscher und auch intelligenter gewesen, als sie.
Ines
erinnerte sich daran, mit welcher Leichtigkeit ihre Freundin die Schule
gemeistert hatte. Stets wurde sie von allen bewundert und von den Lehrern
gelobt. Mit Bravour hatte sie später ihr Abitur bestanden. Danach verschlug es
Marlene zum Studium in eine andere Stadt. Ihrer Freundschaft hatte diese
räumliche Trennung nicht standgehalten. Ines wusste natürlich, dass Marlene ihr
Studium abgebrochen hatte. Auch meinte sie, den Grund dafür zu kennen. Es lag
ja auch auf der Hand. Nachdem ihre Freundin damals den reichen Fabrikantensohn
Frank kennen gelernt hatte, war genug Geld da. Da war Madame nicht mehr
verpflichtet, arbeiten zu gehen und Geld zu verdienen. Ines vermutete, dass
dieser Klassenunterschied daran schuld war, dass sie heute nicht mehr
miteinander befreundet waren.
Ines
öffnete das Fenster, um es auch von außen zu putzen. Dass sie dabei beobachtet
wurde, bemerkte sie allerdings nicht.
Marlene
stand hinter der Gardine ihres Wohnzimmerfensters und beobachtete aus sicherer
Entfernung ihre frühere Freundin, die voller Elan die Fenster putzte. Marlene hatte größten Respekt vor dem, was
Ines leistete. Sie schien ihren Alltag mit Bravour zu meistern. In Sven hatte
sie aber auch einen wirklich liebenswerten Partner und Vater ihres Sohnes an
ihrer Seite. Im Sommer spielten Vater und Sohn oft draußen Fußball. Ihrem Mann,
Frank, ging das manchmal auf die Nerven. Gott sei Dank hatte er sich bisher
noch nicht darüber beschwert.
Es
war schon eigenartig, dass das Leben sie wieder zusammen geführt hatte. Leider
war ihre Freundschaft inzwischen erloschen, was Marlene einerseits bedauerte,
doch andererseits… Es gab ihr jedes Mal einen Stich, wenn sie Ines gemeinsam
mit ihrem Sohn sah. Ob sich Ines bewusst darüber war, dass das Leben es bisher
besonders gut mit ihr gemeint hatte?
Marlenes
Gedanken gingen zurück in ihre Kindheit. Damals, als sie gemeinsam mit Ines die
Schulbank gedrückt hatte, war sie schon neidisch auf sie gewesen. Die Eltern
von Marlene betrieben einen kleinen Konsum, für den sie Tag und Nacht lebten
und arbeiteten. Da war keine Zeit mehr für sie übrig geblieben. Sie musste sich
allein beschäftigen und hatte deshalb oft zu einem Buch gegriffen und gelesen. Manchmal
war sie jedoch unter einem Vorwand bei Ines erschienen, weil sie wusste, dass
dort gemeinsam Mensch-ärgere-dich-nicht oder Halma gespielt wurde. Ob Ines
ahnte, dass sie sie immer um ihre liebevollen Eltern beneidet hatte?
Und
heute? Bestimmt gab es einige Frauen, die sie um ihr Leben beneideten. Doch das
war völlig unbegründet. Kein Mensch geht in einem Leben auf, das aus Langeweile
und Nichtstun besteht. Eigentlich hatte Marlene Innenarchitektin werden wollen,
doch dann wurde sie unerwartet schwanger. Für Frank hatte es sofort fest
gestanden, dass sie beiden heiraten. Er hatte auch dafür gesorgt, dass sie ihr
Studium beendete. Heute wusste sie, dass er es nicht hätte ertragen können,
wenn sie vielleicht sogar erfolgreicher gewesen wäre, als er. Marlene fragte
sich in diesem Moment, warum sie sich bis heute von ihm bevormunden ließ. Für
ihn war sie doch nur das Modepüppchen, das er stolz seinen Geschäftspartnern
präsentierte. Mitreden durfte sie nicht.
Ein
stechender Schmerz durchfuhr Marlene, als sie daran zurück dachte, wie es
damals für sie war, als sie ihr Kind tot auf die Welt gebracht hatte. Frank
hatte es hingenommen, dass es so war. Vielleicht war er sogar erleichtert
gewesen, weil er sein Leben nicht verändern musste? Sie wusste nicht, ob es
wirklich so war. Er sprach nicht mit ihr über seine Gedanken und auch Sorgen. Niemand ahnte, wie es seither in ihr aussah. Sie
hatte all ihre Kraft verloren. Vielleicht war auch das der Grund, weshalb sie
sich gegen Frank nicht durchsetzen konnte. Keiner ihrer jetzigen Nachbarn ahnte
etwas davon. Niemand wusste, dass sie nach diesem dramatischen Ereignis eine
lange Zeit in einer Psychiatrie verbracht hatte. Sie wollte damals lieber bei
ihrem Kind sein, als bei ihrem Mann. Heute hatte sie ihr Leben dank der
Tabletten im Griff, doch immer noch überkam sie oft eine große Traurigkeit und
Leere.
Noch
heute erinnerte sie sich an den Triumph
in Ines Augen, als sie ihr vor einigen Jahren von ihrer Schwangerschaft erzählte.
Es war ja nicht so, dass Marlene anderen Frauen ihr Muttersein nicht gönnte,
doch sie hätte halt auch gerne selbst ein Kind. Nach der Todgeburt war eine
Schwangerschaft für sie nicht mehr möglich und eine Adoption war für Frank keine
Option.
Abrupt
drehte Marlene sich um, nahm ihre Tennistasche und verließ schnellen Schrittes das
Haus. Ihr fehlte einfach die Kraft, ihr Leben zu verändern. Also blieb sie die farbenfrohe
graue Maus an der Seite ihres erfolgreichen Mannes. Eine Rolle, die sie perfekt
beherrschte, die ihr jedoch zuwider war.
©
Martina Pfannenschmidt, 2017