Annika
öffnete die Wohnzimmertür, aber nur einen kleinen Spalt breit: „Schatz ich geh
noch ein bisschen vor die Tür, vielleicht in den Park oder bei Giovanni ein Eis
essen. Ist das okay?“
„Ja
klar, wenn es für dich in Ordnung ist, dass ich nicht mitkomme und noch weiter
schaue.“
„Klar“,
erwiderte sie und schloss die Tür. Annika wusste, dass Björn sogar die Tour de France für sie hätte sausen
lassen, obwohl ihn gerade der Radsport sehr interessierte, doch das erwartete
sie gar nicht. Sie war auch ganz gerne mal alleine, um ihren Gedanken
nachzuhängen und neue Kräfte zu sammeln.
Dazu
ging sie oft in den Park und setzte sich in die Nähe eines alten Baumes, um
sich von seiner Kraft ein bisschen für sich abzuzwacken.
Manchmal
beobachtete sie dabei ihre Umgebung. So nahm sie ein Paar mit weißem Haar wahr,
das auf einer Bank saß und sich ganz offensichtlich auch ohne Worte verstand.
Neben ihnen tobten zwei Hunde und erweckten den Anschein, als würden sie
miteinander ringen.
Ein
sehr ungleiches Paar ging an Annika vorüber. Der Mann war sehr elegant
gekleidet, trug einen edlen Anzug mit Weste und Krawatte. Seine Schuhe glänzten
und funkelten mit der Sonne um die Wette. In jeder Hand hielt er einen Becher
Kaffee. Die Kleidung der jungen Frau neben ihm entsprach dem krassen Gegenteil
und es hatte den Anschein, als hätten ihre Haare seit langem weder Shampoo noch
Kamm gesehen. Die beiden wollten augenscheinlich so gar nicht zueinander passen. Gerade, als sie an Annika
vorüber gingen, hielt der Mann der jungen Frau einen Becher Kaffee hin. Die
Reaktion darauf war krass: „Ich trinke diese Katzenpisse nicht!“
„Jaqueline!“,
war das einzige, was der Mann daraufhin antwortete. Resigniert ließ er den Kopf
hängen. Ob es sich bei der jungen Frau um seine Tochter handelte? Dies würde
Annika wohl niemals erfahren.
Aus
der anderen Richtung kam ein Junge auf einem Rad daher. Sein Vater lief die
ganze Zeit neben ihm her und hielt das Rad fest. Bei dieser Haltung würde er sicher
bald Rückenschmerzen verspüren. Annika gingen Bilder aus ihrer eigenen Kindheit
durch den Kopf. Auch ihr Vater hatte das Rad gehalten, als sie die ersten
Versuche machte, das Radfahren ohne Stützräder zu erlernen. Sie wusste noch,
dass sie sich irgendwann umgedreht und ungläubig
geschaut hatte, als sie bemerkte, dass sie alleine fuhr. Prompt war sie samt
Rad umgefallen. Die kleine Schürfwunde, die sie sich dabei zugezogen hatte, war
inzwischen allerdings verheilt.
Annika
blieb nachdenklich. Ja, ihre kleine Wunde war schnell verheilt, doch als
Pädagogin wusste sie nur zu gut, dass vielen Kindern schlimme Verletzungen zugefügt
werden. Keine, bei denen Blut fließt und auch keine, die einen blauen Fleck
hinterlassen, sondern Wunden, die unsichtbar bleiben, doch die Seele des Kindes
verletzen. Wie oft werden Kindern verbale Verletzungen zugefügt. Seelische
Misshandlungen zeigen viele Gesichter. Für Annika war es unfassbar, wozu Eltern
in der Lage sind. Offensichtliche Ablehnung und ständige Kritik zum Beispiel
oder Drohungen, die ausgesprochen werden, um Kinder zu ängstigen und einzuschüchtern.
Sie hatte selbst einmal erlebt, dass einem Kind völlig der Kontakt zu anderen
Kindern untersagt wurde. Einsamkeit und das Gefühl von Verlassenheit werden
dieses Kind bis ins Erwachsenenalter hinein begleiten. Sie konnte nur hoffen,
dass es in späteren Jahren professionelle Hilfe fand und auch annahm, um dieses
Trauma aus der Kindheit zu verarbeiten.
Annika
schloss die Augen und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen. Bald darauf fiel ein
Schatten auf sie und jemand fragte: „Na, junge Frau, heute ganz alleine
unterwegs?“
Annika
sprang auf und herzte ihre Oma. „Und Sie, meine Dame“, scherzte Annika und sah
sich suchend um, „auch alleine?“
Oma
nickte und meinte: „Du weißt schon, Radsport.“
Annika
nahm ihre Tasche von der Parkbank und hakte sich bei ihrer Oma ein: „Wie wäre
es, wenn ich dich jetzt, wo wir uns zufällig treffen, ganz spontan auf ein Eis
bei Giovanni einlade?“
„Wie
könnte ich deine Einladung ausschlagen!“
Oma
ging zwar schon auf die 80 zu, dennoch war sie fit und hielt dem Schritttempo
ihrer Enkelin stand.
„Weißt
du, Omi, ich habe gerade darüber nachgedacht, dass ich ein Glückskind bin, weil
ich eine so tolle Familie habe.“
„Ja,
das finde ich auch. Wir haben Glück, dass wir uns haben.“
Nach
einer Weile fügte Oma an: „Darf ich dich mal etwas fragen?“
Was
jetzt wohl kommt, dachte Annika.
„Was
denkst du, werde ich es wohl noch erleben, Uroma zu werden?“
„So
fragt man Leute aus“, lachte Annika und fügte an: „Mit dem tollen Mann an meiner Seite sind in jedem Fall Kinder geplant.
Ob sich natürlich eine Seele findet, die zu uns kommen möchte, dass müssen wir
erst noch abwarten.“
„Das
freut mich zu hören“, antwortete Oma und strahlte dabei.
Eine
Schar junger Menschen kam ihnen entgegen.
„Ist
es blöd, wenn ich jetzt sage: Wie hat sich nur die Zeit gewandelt?“, fragte
Oma. Ohne auf eine Antwort zu warten, meinte sie: „Schau nur, alle haben sie
ein Handy in der Hand. Ich glaube, die jungen Menschen heute können sich gar
nicht mehr miteinander unterhalten.“ Oma lachte auf. „Stell dir nur mal vor,
diese Jugendlichen würden in diesem Augenblick in meine Kindheit zurück
versetzt. DIE würden Augen machen? Wir hatten nicht einmal ein Telefon im Haus.
Zeiten waren das! Undenkbar heute. Wie es wohl sein wird, wenn deine Kinder in
dem Alter dieser Jugendlichen sind? Wie man dann wohl miteinander kommuniziert?“
Die
beiden fanden einen sonnigen Platz im Eiscafé und bestellten sich einen großen
Eisbecher.
Annika
dachte darüber nach, wie aufgeschlossen ihre Oma allem Neuen gegenüber war.
Deshalb sagte sie: „Ich glaube, wir müssen einfach mit der Zeit gehen, auch im
Alter.“
Dem
stimmte Oma zu. Bald darauf aßen beide genüsslich ihr Eis und freuten sich über
die Zeit, die sie miteinander verbringen durften und auf alles, was das Leben
für sie noch bereithalten würde.
©
Martina Pfannenschmidt, 2017