Donnerstag, 9. November 2017

Kleine Sünden bestraft der liebe Gott sofort

Oma, Mama und Kathrin saßen gemeinsam vor dem Adventskranz, auf dem bereits die 3. Kerze brannte. Sie genossen die Ruhe dieses Nachmittags, tranken Kaffee und Kakao, aßen selbst gebackene Plätzchen und plauderten miteinander. Leider wurde diese seltene Mußestunde durch das Telefon unterbrochen. Eine kurze Zeit später saßen Oma und Kathrin nur noch alleine im Esszimmer. Mama musste den Wagen ihrer Freundin abschleppen. Er sprang nicht mehr an.
Kathrin war ein bisschen traurig darüber, doch sie war alt genug um zu verstehen, dass es Situationen gab, die es erforderten, auch solch schöne Momente abrupt zu beenden. So unterhielten sich Kathrin und Oma alleine weiter.
„Du Omi, eigentlich ist die Weihnachtszeit doch eine fröhliche Zeit und gar kein bisschen traurig.“
„Weshalb sollte es denn eine bekümmerte Zeit sein?“, erkundigte sich Oma und fand die Frage ein bisschen merkwürdig.
„Na, weil es doch ‚Weinachten’ heißt. Und wenn wir weinen, sind wir doch traurig.“
„Oh nein, Kathrin, das Wort hat nichts mit dem ‚Weinen’ und mit Tränen zu tun. Weihnachten schreibt man doch mit einem ‚h’ in der Mitte. Diese Tage, an denen wir die Geburt Jesu feiern, wurden als heilig, als geweiht – also einfach als etwas ganz Besonderes angesehen. Deshalb gab man ihnen den Namen ‚Weihnachten’ – was geweihte Nächte bedeutet. Und den Geburtstag von Jesus, den 24. Dezember, bezeichnen wir als den ‚Heiligen Abend’ oder die ‚Heilige Nacht’. Es ist eben etwas ganz Besonderes geschehen und das möchte man damit zum Ausdruck bringen.“
„Ach so!“, erwiderte Kathrin. „So ist das! Weißt du noch Omi, als ich ganz klein war? Damals habe ich noch geglaubt, das Christkind brächte die Geschenke und würde sie  heimlich unter den Tannenbaum legen. Heute weiß ich es ja besser. Es sind die Erwachsenen, die den Kindern etwas schenken.“
„Ich kann mich noch gut an dein erstes Weihnachtsfest erinnern. Du schautest mit deinen großen Augen auf den glitzernden Baum. Und auch meine Kindheit und das Weihnachtsfest stehen mir vor Augen, als sei es gestern gewesen.“
„Hattet ihr auch einen Weihnachtsbaum?“
„Na klar hatten wir auch einen. Aber es gab auch Zeiten, da holten sich die Menschen nur grüne Zweige ins Haus, weil sie sich einen Baum nicht leisten konnten oder weil es diese Tradition noch gar nicht gab.“
„Aber warum machen wir das überhaupt? Warum stellen wir einen Weihnachtsbaum auf?“
„Schau Kind, die Weihnachtstage fallen in eine sehr dunkle Zeit. Da hatten die Menschen das Bedürfnis, sich etwas Grünes ins Haus zu holen. Und zu dieser Zeit haben alle anderen Bäume keine Blätter. Aber die Tanne, die trägt ihr grünes Nadelkleid auch im Winter.“
Kathrins Fragestunde war damit noch nicht beendet: „Und weshalb stehen Kerzen darauf und warum behängen wir ihn mit goldenen Kugeln und Strohsternen?“
„Wir sagen doch von Jesus, er sei das Licht der Welt. Und die Kerzen sind das Symbol dafür. Sie bringen Helligkeit in unsere dunkle Welt – genau wie es Jesus getan hat. Die Strohsterne wiederum erinnern uns an das Stroh im Stall, in dem Jesus geboren wurde und das Gold der Kugeln ist ein Symbol für den Himmel. Dort herrscht keine Dunkelheit, sondern alles erstrahlt hell. Es mag uns wie reines Gold erscheinen. Manchmal sieht man auch rote Äpfel am Weihnachtsbaum. Sie erinnern uns an das Paradies. Du kennst ja die Geschichte mit dem Apfel, von dem Eva aß.“
„Ja klar! Du Omi, manchmal sagt Mama, dass sie nicht viel von dieser besinnlichen Zeit spürt.“
„Ja, das ist so bei uns Erwachsenen. Wir sprechen viel von Besinnlichkeit und Ruhe, die wir uns für die Vorweihnachtszeit wünschen. Gerne  wollen wir auch mit viel Liebe schenken. Doch wir verzetteln uns in zu vielen Aktivitäten und Dingen, die vielleicht gar nicht so wichtig und notwendig wären. Mir scheint, diese Vorfreude auf Weihnachten, dieses Warten und Staunen, ist den Kindern vorbehalten.“
„Warst du als Kind auch so sehr aufgeregt und konntest es gar nicht erwarten?“
„Oh ja, ich war sehr aufgeregt und die Zeit bis zur Bescherung, die zog sich wie Kaugummi. Man durfte die gute Stube nicht betreten. Dort war ja das Christkind am Werk. Einmal habe ich versucht, durch das Schlüsselloch zu schauen und das war gar nicht gut.“
Oma schmunzelte bei der Erinnerung.
„Ich weiß gar nicht mehr, wie alt ich war, vielleicht fünf, denke ich. Leise schlich ich über den Flur und schaute durch das Schlüsselloch. Da sah ich ihn, den wunderschönen Tannenbaum. Behängt war er mit silbrigem Lametta und ganz viele echte Kerzen standen auf den Zweigen. Unter dem Baum sah ich eine Puppe. Mein Herz machte einen Freudensprung. Ich wusste auch schon genau, wie ich sie nennen wollte“, erinnerte sich Oma. „Irgendwann war es so weit. Meine Schwester Alma und ich wir mussten, wenn wir die Weihnachtsstube betraten, zunächst ein Gedicht aufsagen, ein Lied singen oder etwas auf der Blockflöte spielen. Das fand ich immer ganz furchtbar. Die Geschenke lagen unter dem Baum und wir durften uns nicht darauf stürzen und sie öffnen. Ich hatte nur Augen für  meine  Puppe, während ich ein kleines Gedicht aufsagte. Als wir endlich zu den Geschenken gehen durften, nahm Tante Alma die Puppe auf den Arm. Ich wurde ganz wütend und sagte: ‚Gib sie her, sie ist für mich!’. Doch ich hatte mich geirrt. Sie trug ein Kleid mit einer Schürze. In der Schürze lag ein Zettel und darauf stand: ‚Ich heiße Mimmi und bin für Alma bestimmt!’. Kannst du dir vorstellen, wie traurig ich damals war. Ich habe sofort begonnen, ganz bitterlich zu weinen. Vor lauter Tränen in den Augen konnte ich gar nicht sehen, dass in der anderen Ecke auf einem kleinen Puppenstuhl noch eine Puppe saß. Sie war etwas kleiner. Auch diese Puppe hatte ein Schildchen dabei. Und darauf stand: ‚Ich heiße Monika und bin für Sophie bestimmt!’. Da war ich wirklich glücklich.“
„Oje!“ Kathrin zeigte viel Verständnis für die damalige Lage ihrer Oma.
„Aber das war noch gar nicht der Schluss der Geschichte. Als ich nämlich am nächsten Morgen wach wurde, konnte ich ein Auge nicht mehr öffnen. Es war genau das, mit dem ich am Vortag durch das Schlüsselloch geschaut hatte. Und nun zeigte sich genau an dem Auge eine Bindehautentzündung. Und da dachte ich mir, das Christkind wollte mich bestrafen, weil ich es gestört hatte mit meinem Blick durch das Schlüsselloch. Deshalb habe ich es niemals wieder getan“.
Kathrin lachte über Omas Aussage, stopfte sich ein weiteres Plätzchen in den Mund und nuschelte: „Kleine Sünden bestraft der liebe Gott eben sofort!“ 


© Martina Pfannenschmidt, 2015