Freitag, 10. November 2017

In dulci jubilo

Mama nahm Luisa in den Arm: „Alles Liebe zu deinem Geburtstag und ganz viel Glück im neuen Lebensjahr!“
„Danke, Mama! Aber jetzt komm erst einmal herein. Es ist heute ziemlich kalt.“
„Wie so oft an diesem Tag“, erwiderte Mama.
„Stimmt!“
Luisa nahm ihrer Mutter den Mantel ab und freute sich über das Geschenk und den schönen Blumenstrauß, den ihre Mutter ihr übergab. Beide gingen anschließend in die Küche, wo es schon so herrlich nach Kaffee duftete. Doch zunächst packte Luisa das Päckchen aus. Wie gewünscht bekam sie selbst gestrickte Socken. Darauf lagen zwei Konzertkarten, über die sie sich sehr freute.
Als die beiden Frauen später bei Kaffee und Kuchen beisammen saßen, gingen ihre Gedanken zurück in Luisas Kindheit.
„Weißt du, Mami, eigentlich ist es blöd, jetzt Geburtstag zu haben. Doch du hast immer einen besonderen Tag für mich daraus gemacht. Ich hatte nie das Gefühl, weniger Geschenke zu bekommen, als andere Kinder oder meine Geschwister, auch wenn mein Geburtstag so dicht vor Weihnachten liegt. Und weißt du noch, dass du mir in der kalten Jahreszeit immer viel vorgelesen hast. Am liebsten mochte ich Märchen.“
„Wie könnte ich das jemals vergessen!“
Luisa senkte ihre Stimme, als sie weiter sprach: „Ein Mann ging an einem kalten Wintermorgen bei dichtem Schneetreiben in den Wald, um Holz zu hacken. Wenig später stand er staunend vor einem verwunschenen Schloss, auf das er mit verklärtem Blick schaute.“ Luisa brach in lautes Gelächter aus. „Ich glaube, ich habe kein Talent dafür, Märchen zu erzählen.“
„Das macht nichts“, meinte Mama und lachte auch. „Dafür liegen deine Talente auf einem anderen Gebiet. Beim Kuchen backen zum Beispiel. Dieser hier ist einfach köstlich.“ Schon schob Mama sich wieder ein Stückchen davon in den Mund.
„Weihnachten bringe ich in jedem Fall Kekse mit“, kündigte Luisa an. „Irgendwie bin ich in diesem Jahr im Back- und Vorweihnachtsfieber. Ich freue mich riesig, dass wir alle zusammen kommen, so wie früher.“
„Wie früher?!“, wiederholte Mama. „Erinnerst du dich, früher hattet ihr alle einen Adventskalender mit Schokoladenstückchen darin und obwohl ihr wusstet, dass es am folgenden Tag wieder so sein würde, habt ihr euch trotzdem darüber gefreut. Schließlich gab es auch an jedem Tag ein neues Bildchen hinter der verschlossenen Tür.“
„Ich ahne, worauf die hinaus willst. Heute muss es mindestens einer sein, der 24 kleine Geschenke enthält.“
„Genau. Die täglichen Gaben sind doch oftmals schon wie kleine Weihnachtsgeschenke.“
„Ja, das stimmt wohl. Auch die Beleuchtung war früher viel minimalistischer, als heute – und vor allen Dingen: Es krochen keine Plastikweihnachtsmänner die Fallrohre hinauf.“
„Und wenn ich daran denke, wie ich euch früher zum Schlittschuhlaufen geschickt habe, bekomme ich noch heute ein ganz schlechtes Gewissen. Kein Knie- und Armschutz, keinen Helm.“
„Passiert ist aber nie etwas.“
„Zum Glück“, entgegnete Mama. „Erinnerst du dich auch noch an den Nikolaustag, an das Poltern und Klopfen. Du hast dich immer so gefürchtet. Doch wenn ich dir sagte, dass der Nikolaus da war, um etwas in deine Schuhe zu stecken, bist so schnell zum Fenster gerannt. Schließlich wolltest du noch einen Blick auf ihn erhaschen.“
„Klar, erinnere ich mich und ganz besonders an die Bescherung am Heiligabend. Wir saßen mit dir zusammen in der Küche. Das Papa nie dabei war, ist mir damals gar nicht aufgefallen.“
„Und irgendwann klingelte das Glöckchen und wir gingen gemeinsam ins Wohnzimmer.“
„Ja, genau, aber vergiss nicht: Zuerst musste ich auf der Blockflöte Weihnachtslieder spielen. Erst dann durften wir zu den Geschenken.“
„Ja, die Geschenke. Sie fielen halt nicht so üppig aus, wie heute. Ich hatte immer einen neuen Pulli für euch gestrickt und Oma steuerte selbst gestrickte Socken bei, die du ja heute noch liebst.“
„Aber es gab auch immer Spielsachen für uns.“
„Ja, das stimmt. Damit habt ihr dann in den folgenden Tagen ununterbrochen gespielt.“
„Mama?“
„Ja.“
„Warum ist die Freude am Weihnachtsfest eigentlich verloren gegangen, obwohl es überall glitzert und leuchtet?“
„Keine Ahnung! Vielleicht, weil wir die Weihnachtslieder heute von den Stars singen lassen, anstatt sie selbst anzustimmen? Oder weil es Weihnachten für Schal und Mütze oft viel zu warm ist und es nur noch ganz selten weiße Weihnachten gibt? Ich kann es dir nicht beantworten.“
„Vielleicht liegt es auch daran, dass viele Menschen Weihnachten heute als stressig empfinden. Schon Anfang Dezember jammern sie, weil sie nicht wissen, wie sie das alles schaffen sollen und vor allen Dingen, womit sie eine Freude beim Schenken bereiten können.“
„Und die Geschäfte sind nach Weihnachten voller, als sie an den Tagen davor waren, weil so vieles umgetauscht wird. Kein Wunder, dass fast nur noch Gutscheine verschenkt werden.“
„Schade eigentlich, dass viele Kinder nicht mehr so aufwachsen, wie wir es kennen gelernt haben und wer spielt Weihnachten noch Blockflöte oder singt Lieder?“
„Weißt du was? Wollen wir es in diesem Jahr nicht so machen, wie früher?“
„Du meinst, ich soll vor der Bescherung Blockflöte spielen?“
„Ja, das wäre doch toll und eine echte Überraschung für alle.“
„Aber dann muss Papa auch vorher das Glöckchen läuten und vor allen Dingen: Ich muss noch jede Menge üben und soviel Zeit bleibt mir dazu gar nicht mehr.“
„Na, worauf wartest du noch, hol sie her, deine alte Blockflöte und dann wird geübt“, frohlockte Mama.
Luisa sprang auf, um ihr altes Musikinstrument zu holen. Dabei schmetterte sie voller Vorfreude: „In dulci jubilohoho, nun singet und seid frohhoho!“


© Martina Pfannenschmidt, 2016