Helmut saß auf einer Bank mitten in der Einkaufsstraße, so wie er es an
jedem Tag tat. Heute war er alleine. Das machte ihm aber nichts aus. Er war
ganz gerne mal für sich. Fast hätte er bei dem Gedanken laut los gelacht. Das
war mal ganz anders, früher, in seinem alten Leben. Damals gab es viele
Termine, jede Menge Stress und viele hektische Menschen um ihn herum.
Die hell erleuchteten Straßen und Geschäfte verrieten, dass die
Adventszeit gekommen war. Überall in den Auslagen funkelte es und es gab etliche Tannenbäume, die mit Kugeln, Lametta
oder Engelhaar geschmückt waren.
Heute konnte er sich kaum noch vorstellen, dass es mal Zeiten für ihn
gegeben hatte, in denen seine Uhr so teuer gewesen war, wie ein gebrauchter
Kleinwagen und seine Sekretärin für seine Frau zu Weihnachten ebenso teuren
Schmuck besorgt hatte.
Helmut schüttelte den Kopf. Niemals hätte er damit gerechnet, dass er
jemals in diese Situation geraten könnte. Er, der Macher, der vor Ideen nur so
strotzte. Doch dann hatte er sich verspekuliert, sehr viel Geld verloren.
Aufträge waren weg gebrochen, Kunden hatten nicht gezahlt.
Seine Frau war nicht bereit gewesen, auf ein Leben im Luxus zu
verzichten. Sie hatte ihn verlassen. Als sich dann auch noch seine Freunde und
Geschäftspartner von ihm abgewandt hatten, war das der Anfang vom Ende für ihn
gewesen. Wie in einer Abwärtsspirale war es für Helmut nur noch bergab
gegangen. Tiefer und tiefer! Doch tiefer, als er jetzt war, konnte er nicht
mehr fallen. Ein irgendwie beruhigender Gedanke, dachte Helmut sarkastisch.
Menschen gingen an ihm vorüber, ohne ihn zu beachten. Das kannte er
schon. Die meisten allerdings schauten voller Abscheu weg. Das traf ihn am
meisten. Oft erreichte ihn der Blick von Kindern und er hörte, wie sie ihre
Eltern fragten: „Was ist mit dem Mann? Hat der nichts zu essen? Ist der arm?
Muss der frieren?“
Ja, oft war ihm lausig kalt und es gab wohl niemanden, der sein Leben
mit dem seinen hätte tauschen
wollen. Viele seiner heutigen Kumpel versuchten, ihrer Situation und der Kälte
durch das Trinken von Alkohol zu entkommen. Doch man entkam ihr nicht. Sie
kroch wie eine Schlange von den Füßen her an einem hoch und ließ einen
erzittern.
Es gab aber auch Menschen, die anders waren, die heiße Getränke
brachten und auch wärmende Decken. Letztens hatte ihm eine Frau sogar einen
Glühwein spendiert und dazu eine Tüte mit Zimtsternen.
Diese Momente waren aber eher selten.
An jedem Abend ging Helmut ins so genannte Nachtcafé der Heilsarmee.
Dort gab es eine warme Mahlzeit, die er sich nicht entgehen ließ. Am Abend
zuvor war es dort zu einem Gespräch mit dem dortigen Leiter gekommen. Er hatte
sich ganz spontan zu ihm an den Tisch gesetzt und ihn nach seinem Leben
gefragt. Helmut hatte von früher erzählt und wie es heute für ihn so ist. Dass
er auf Parkbänken oder in Bahnhofsecken übernachtet, so lange, bis man ihn von
dort vertreibt und er hatte ihm anvertraut, dass er sich müde und ausgelaugt
fühlt.
Helmuts Blick war auf eine Bibelstelle gefallen, die dort in den
Räumlichkeiten an der Wand hängt: ‚Gebt den Hungrigen zu essen, nehmt
Obdachlose bei euch auf und wenn ihr einem begegnet, der in Lumpen herumläuft,
gebt ihm Kleider! Helft, wo ihr könnt und verschließt eure Augen nicht vor den
Nöten eurer Mitmenschen!’
„Wissen Sie“, hatte Helmut dem Mann gesagt und dabei auf das Bild
gezeigt, „wenn ich wie Sie einen Glauben hätte, könnte ich ‚dem da oben’ alles
in die Schuhe schieben oder ich könnte ihn bitten, mir in meiner Situation zu
helfen. Doch ich weiß, dass ich ganz alleine für mein Dilemma verantwortlich
bin und dass es niemanden gibt, der mir helfen kann oder wird.“
Dieses Gespräch hatte Helmut noch im Kopf, als er ein kleines Mädchen
hören rief: „Schau Mama, dort sitzt der Nikolaus. Lass uns zu ihm gehen,
bitte!“ Dabei zeigte sie in seine Richtung. Helmut sah sich um. Das Kind meinte
tatsächlich ihn. Mit seinem weißen Vollbart und der roten Mütze, die er gegen
die Kälte trug, hatte er wohl tatsächlich Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann.
Die Frau zog das Kind jedoch weiter. Verständlich. Welche Mutter sah es
gerne, wenn ihr Mädchen mit so einem wie ihm Kontakt hatte. Doch die Kleine
riss sich von der Hand der Mutter los und kam direkt auf ihn zu.
„Isabell, was soll das denn jetzt, komm sofort wieder her, wir müssen
weiter.“
„Ich komme gleich. Ich möchte dem Mann nur etwas geben“, rief sie ihrer
Mutter zu, wandte sich Helmut zu und meinte: „Hier, nimm. Das ist ein
Glücksstein. Du sollst ihn haben.“ Das Mädchen drückte ihm dabei einen weißen
Kieselstein in die Hand und einen Kuss auf die Wange, bevor es zurück zu seiner
Mutter lief. Diese kleine Geste brachte Helmut fast aus dem Gleichgewicht. So
viel Wärme und Zuneigung hatte ihm schon lange niemand mehr geschenkt.
Selbstvergessen betrachtete er den Stein. Es war ein ganz normaler
kleiner Stein, doch ihm wurde ganz warm ums Herz. Es war, als habe dieses
kleine Mädchen die Ketten gesprengt, die sich um sein Herz gelegt hatten.
Nach einer Weile erhob er sich und trat den Weg an, um seine warme
Mahlzeit einzunehmen. Viele Gedanken gingen ihm dabei durch den Kopf: Was
könnte ich tun oder wie könnte ich es schaffen, mich aus meiner Situation zu
befreien? Gibt es irgendwo einen Lichtblick – auch für mich? Und dann tat er
etwas, was er noch nie zuvor getan hatte. Helmut blickte nach oben und dachte:
Okay, wenn es da oben wirklich jemanden gibt, der mir helfen könnte, wäre genau
jetzt der richtige Zeitpunkt dafür.
Bald darauf betrat er die warme Stube der Heilsarmee. Als er seine
Suppe löffelte, kam der Mann vom Vortag auf ihn zu und sprach ihn erneut an:
„Wir haben uns doch gestern so nett unterhalten und ich hatte den Eindruck,
dass Sie ein verlässlicher Mensch sind. Wir könnten hier ein bisschen
Unterstützung gebrauchen. Essensausgabe, aufräumen, einfache Arbeiten. Viel
Geld lässt sich damit freilich nicht verdienen, doch es wäre ein Anfang. Wie
schaut’s aus? Sind sie dabei?“
© Martina Pfannenschmidt, 2016