Freitag, 10. November 2017

Geben ist schöner, denn nehmen

Zunächst einmal müsst ihr wissen, dass mein Zuhause der Garten der Familie Lüdecke ist. Die Kinder der Lüdeckes haben mich gebaut. Ein paar Tage vor dem Weihnachtsfest begann es nämlich zu schneien, und in Nullkommanix hatte mich die Rasselbande auf die Beine gestellt. Auch wenn ihr mich nicht persönlich kennt, so könnt ihr euch sicher vorstellen, wie ich ausschaue – ich bin nämlich ein Schneemann. Ein besonders schöner und ein wahres Kunstwerk obendrein. Passt auf, ich erkläre es euch genauer: Sechs Haselnüsse zieren meinen Bauch. Es sieht tatsächlich so aus, als trüge ich eine Jacke mit edlen Knöpfen. Wenn ihr mir gedanklich nun bitte ein kleines Stückchen noch oben folgen würdet, weil ihr so sehen könnt, dass ich einen kunterbunten Schal trage. Er stammt von Lotta. Ihre Oma hat ihn für sie gestrickt, doch Lotta sagt, dass er kratzt. Also, mich kratzt er nicht. Ich freue mich über ihn. So, nun geht es weiter zu meinem Gesicht. Beginnen wir mit meinem Mund. Er ist echt scharf, weil Pascal zwei Peperoni dafür aus der Küche geholt und mir daraus einen roten Mund gemacht hat. Meine Nase besteht natürlich aus einer Möhre und meine Augen sind in Wahrheit zwei kleine Äpfel. Nett, oder? Und bevor ich es vergesse: Auf dem Kopf trage ich einen Schlapphut. Er ist aus Leder und gehörte Opa Alfons. So, nun wisst ihr genau, wie ich ausschaue, nur meinen Namen, den kennt ihr noch nicht, ich verrate ihn euch gerne – aber erst später.
Wenn ihr im Augenblick gerade nichts Besseres zu tun habt, könnte ich euch davon erzählen, was ich in der Heiligen Nacht so alles erlebt habe.  
Passt also auf: Ganz in meiner Nähe steht eine wunderschöne Tanne. Die Lüdeckes haben sie geschmückt und eine Lichterkette angebracht. Sie brennt die ganze Nacht hindurch. Das gefällt mir. In der Heiligen Nacht war es ganz besonders still. Niemand schien außer mir noch draußen zu sein. Doch ich hatte mich getäuscht.
Plötzlich vernahm ich in der Nähe der Tanne eigenartige Geräusche. Bald kam ein Eichhörnchen zum Vorschein und ich beobachtete sein Treiben. Es machte sich unter der Tanne zu schaffen. Ich rief ihm zu: „He, du, was machst du denn da?“
„Ich suche, … ich suche …, ich suche …“
Weiter kam es vor lauter Aufregung nicht. Erst als ich fragte: „Ja, was suchst du denn?“, erhielt ich eine Antwort.
„Die Nüsse, suche ich, die ich im Herbst hier verbuddelt habe. Oder war es vielleicht doch an einem anderen Platz? Ich kann mich einfach nicht erinnern. Aber heute ist doch Heiligabend. Ich kann doch nicht ohne Nüsse nach Hause kommen. Was mache ich nur, was mache ich nur?“
Ich hörte aufmerksam zu und sah, wie verzweifelt das Eichhörnchen nach den Nüssen suchte. Deshalb rief ich es zu mir. Als es näher kam und meine Knöpfe entdeckte, freute es sich und rief: „Ja, da sind sie ja! Wie kommen sie nur dahin?“
„Nimm sie nur“, habe ich geflüstert und ihm und seiner Familie ein frohes Weihnachtsfest gewünscht.
Doch kaum war das Eichhörnchen davongerannt, hoppelte ein Schneehase vor meinen Füßen herum. Fast hätte ich ihn nicht gesehen. Einzig seine Augen konnte ich erkennen. Das war zunächst ein bisschen unheimlich. Als er mich jedoch anbettelte, ob er vielleicht meine Möhrennase haben könnte, weil er hungrig sei, konnte ich gar nicht anders. Ich habe so doll geniest, bis die Mohrrübe im hohen Bogen von meinem Kopf flog – genau vor seine Füße. Er hat die Möhre direkt vor Ort verspeist und hoppelte anschließend gesättigt davon.
Und wenn ihr nun denkt, in der weiteren Nacht blieb es still, täuscht ihr euch. Es ging in meinem Garten zu, wie auf einem türkischen Basar. Plötzlich stand hungrig ein Esel vor mir, der noch vor ein paar Stunden bei der lebendigen Krippe mitgewirkt hatte. Er war ein bisschen enttäuscht, weil ich keine Nase mehr hatte, doch er fragte höflich, ob er sich wohl bei den Äpfeln bedienen dürfte. Ihr ahnt sicher schon, dass ich es ihm gerne erlaubt habe.
Nun stand ich dort: ohne Knöpfe, ohne Augen und ohne Nase. Aber ich hatte ja noch meinen Mund, einen Hut und einen Schal.
Es dauerte gar nicht lange, bis ein weiterer weißer Geselle vor mir stand. Selbst aufrecht war er nicht sonderlich groß. Er verneigte sich freundlich und stellte sich mit folgenden Worten vor: „Guten Abend, Herr Schneemann, wenn Sie mich erlauben, würde ich mir Ihnen gerne vorstellen. Mein Name ist Mustela nivalis. Meines Zeichens bin ich ein Wiesel. Ich wohne mit Frau und Tochter ganz in Ihrer Nähe und weil doch heute Heiligabend ist, da schickt mir die liebe Frau zu Sie, um zu fragen, ob Sie vielleicht Ihren Schal entbehren könnten für unser Töchterlein. Es würde mir sehr freuen, wenn Sie es mich gibten. Sie müssen wissen, mein Töchterchen heißt Zitterella. Seit sie geboren wurde, zittert sie. Immer ist ihr kalt und so ein Schal, wie der Ihrige, Herr Schneemann, ….“
„Schon gut, schon gut“, fiel ich ihm ins Wort. Mir wurde schon ganz blümerant bei seiner Wortwahl. „Krabbele nur zu mir herauf und bedien dich. Wäre doch schön, wenn der kleinen Zitterella genau am Heiligabend warm ums Herz würde.“
Was soll ich euch sagen, nun stand ich dort, halb nackt. Viel war es nicht mehr, was ich anderen hätte bieten können, doch selbst für den alten Hut fanden sich noch Liebhaber. Hört nur zu!
Aufgeregt kamen Herr und Frau Spatz direkt auf mich zugeflogen. Sie hätten nicht viel Zeit mitgebracht, erklärte Frau Spatz überspannt. Es seien nun doch mehr Familienmitglieder zur Feier erschienen, als zunächst geplant gewesen sei. Als ich ihr erklärte, dass ich ihr nur noch zwei Peperoni anbieten könnte, winkte sie ab. „Nein, zu essen haben wir genug. Die Familie hat zum Fest das Vogelhäuschen besonders prall gefüllt. Das ist nicht unser Problem. Aber die Übernachtungsmöglichkeiten gehen uns aus. Wenn wir vielleicht ihren Hut …“ „Natürlich, liebe Frau Spatz, bedienen Sie sich“, rief ich aus. Bald darauf flog das Ehepaar zurück zur Familie – zwischen ihnen schwebte mein Hut davon.
Die beiden hatten übrigens großes Glück, dass der Fuchs, der sich plötzlich im Garten zu schaffen machte, sie nicht erwischt hatte. Vorwitzig kam der alte Schlawiner mir aufdringlich nahe.
„Na, Herr Schneemann“, säuselte er und unterdrückte dabei ein Kichern, „sie sehen ja ziemlich mitgenommen aus.“
„Machen Sie sich um mich nur keine Sorgen, Herr Fuchs“, antwortete ich freundlich, „ich gebe gerne. Schließlich ist heute Heiligabend. Wie wäre es, wenn ich Ihnen das Letzte, was ich besitze, zur Verfügung stellte?“
„Und was wäre das?“
„Peperoni“, antwortete ich wahrheitsgemäß und fügte an: „Sie gehört zur Familie der Paprika und soll sehr gesund sein.“
„Ja dann. Nur zu. Schmeiß runter, das Zeug.“
Gesagt – getan.
Könnt ihr euch vorstellen, wie der listige Fuchs geschaut hat, als er heißhungrig in die Peperoni biss? Laut fluchend lief er Richtung Wald. Sein Schimpfen war weithin zu hören.
Sagt, hatte ich nicht einen unglaublichen Heiligabend? So viele Tiere konnte ich beschenken. Auch wenn ich selbst nichts außer einem herzlichen Dank bekommen habe, so bin ich doch Felix – der Glückliche!


© Martina Pfannenschmidt, 2017