Freitag, 10. November 2017

Kinokarten

Mein Name ist Jenny. Ich bin 26 Jahre alt, schlank, blond, passabel aussehend und: Einsam! Warum das so ist? Weil ich es immer mit den falschen Männern zu tun bekomme. Ich kann euch sagen, ich kenne sie in- und auswendig, diese Machos und Möchtegern-Casanovas! So einen suche ich doch nicht. Für mich kommt nur jemand infrage, der ehrlich ist und mich so nimmt, wie ich bin und überhaupt – eigentlich kommt nur einer infrage, der ahnt es aber nicht: Mein Nachbar Jonny. Jenny und Jonny – wie das schon klingt! Doch er rührt sich einfach nicht, macht keine Anstalten, um mit mir auszugehen oder dergleichen. Deshalb dachte ich mir, dass ich die Sache wohl in die Hand nehmen muss, sonst sind wir in 100 Jahren noch kein Paar.
Als ich so in meiner Wohnung saß, draußen weiße Flocken aus dem Himmel segelten und im Radio ‚Er gehört zu mir’ lief, kam mir ein Gedankenblitz. Ich könnte doch … aber zunächst müsste ich … zwei Kinokarten besorgen.
Eine davon legte ich in einen Umschlag, malte lauter kleine Herzchen darauf und lauerte meinem Nachbarn auf. Ne, das ist Quatsch. Ich lauerte ihm nicht auf, sondern ich wartete, bis er das Haus verlassen hatte. Es war ziemlich dunkel, als ich durch den Hausflur geisterte, um besagten Umschlag auf seine Fußmatte zu legen. Anschließend galt es, sich ruhig zu verhalten und durch den Spion zu schauen, wie er auf den Umschlag reagieren würde. Im Gegensatz zu mir erleuchtete er beim Heimkommen das Treppenhaus hell, so dass ich gut sehen konnte, wie er das kleine Geschenk an sich nahm und in seinen Händen hin und her drehte. Vermutlich suchte er nach dem Absender, den er natürlich nicht fand und als ich die Situation zum Platzen fand und mein Herz bis zum Hals klopfte, schloss er seine Wohnungstür auf und ging mitsamt seiner Beute hinein. Und ich konnte nicht sehen, wie er auf den Inhalt reagierte. Mist!
Am besagten Abend des neuen Jahres, als der Kinofilm anlief, zu dem ich meinen Nachbarn anonym eingeladen hatte, ging ich bereits sehr zeitig aus dem Haus. Ich wollte nicht so gerne, dass wir uns bereits in unserem Mietshaus begegneten um festzustellen, dass wir den gleichen Weg hatten. Ich wollte … Ja, ich weiß auch nicht so genau, was ich wollte. Jedenfalls wollte ich ihn überraschen und gleichzeitig seine Aufmerksamkeit auf mich lenken und ihm zeigen, dass er mir wichtig ist.
Also ging ich zielstrebig Richtung Kino, als mir ein älterer Herr mit seiner riesigen Dogge begegnete. Gerade in dem Moment, als ich mich fragte, wer denn da wen ausführt, machte der Hund einen Satz zur Seite, sprang quasi vor mir her, so dass ich ins Stolpern geriet. Ich fiel über die Leine und brauch mit dabei ein Bein. – So, an dieser Stelle wäre jetzt ein wenig Mitleid durchaus angebracht.
Menschen blieben stehen und ich hörte Sätze wie: „Ach, die Ärmste, wenn das neue Jahr schon so beginnt.“ Super dachte ich. Mehr davon. Wisst ihr, wie besch… das letzte Jahr für mich war? Da brauch ich keine Steigerung, ne, auf keinen Fall. Aber was sollte ich machen? Man brachte mich mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus. Dort erfuhr ich, dass ich ein paar Tage bleiben müsste. Komplizierter Bruch – Operation. Die Tränen flossen und erinnerten an kleine Bäche, die dahin plätscherten und nicht zum Stillstand gebracht werden konnten. Das schaffte erst die Narkose – aus der ich später ziemlich benebelt erwachte. Dass mir kotzübel war und ich giftgrüne Galle …, ne, das gehört jetzt nicht hierher.
Nun lag ich also mit meinem Gipsbein ziemlich elend und mit der Welt und dem lieben Gott hadernd im Krankenhaus. Super Plan, Jenny, echt, spitzenmäßig gelaufen, sagte ich mir.
Am nächsten Nachmittag brachte man mir eine große Tasse Kaffee und ein Stückchen Kuchen. Gut so! Irgendwie musste ich mir das Leben ein bisschen versüßen. Als ich nun so meinen Kuchen in mich hinein stopfte, klopfte es leise.
„Herein!“, rief ich und als ich gerade darüber nachdachte, wie erbärmlich ich aussehen musste, lugte ein mir bekannter Kopf um die Tür. Vor Schreck fiel mir die Kuchengabel aus der Hand. Jonny, mein Nachbar, stand in der Tür.
„Darf ich hereinkommen?“, fragte er höflich.
Mit einer Handbewegung versuchte ich, meine Haare zu richten, während ich gleichzeitig: „Na klar, gerne!“, flötete.
„Ich hab von deinem Unglück gehört und dachte mir, vielleicht würdest du dich über ein paar Blümchen freuen. Ich stelle sie gleich hier hinten auf den Tisch, dann kannst du sie am besten sehen.“
„Wie aufmerksam!“
„Wie hast du das denn hinbekommen?“, erkundigte er sich, während er sich schwungvoll auf die Bettkante setzte und auf mein Bein zeigte.
Ich erzählte es bereitwillig, ohne natürlich zu erwähnen, dass ich auf dem Weg ins Kino war, um ihm endlich zu zeigen …
„Ach guck mal an“, meinte er. „Ich war zur gleichen Zeit auch unterwegs. Du musst wissen, dass im Kino ‚Passengers’ lief. Den wollte ich mir unbedingt ansehen.“
Ich räusperte mich und tat so, als habe ich noch nie in meinem Leben von diesem Film gehört und fragte scheinheilig: „Um was geht es denn da?“
„Du, wie so oft um einen Mann und eine Frau. Sie waren mit tausend anderen Leuten auf einem Raumschiff unterwegs, wurden jedoch vorher eingefroren, da sie eine 90jährige Reise zu einem anderen Planeten vor sich hatten. Sie sollten halt noch jung dort ankommen. Aber diese Beiden erwachten viel zu früh. Man könnte auch sagen, die Eiszeit zwischen ihnen wurde beendet.“ Dann lachte er laut. „Die Vorstellung zu zweit alleine in einem riesigen Raumschiff für mehrere Jahrzehnte unterwegs zu sein, ist schon schwierig. Nur zwei Menschen und sonst niemand. Aber es kam anders. Mehr erzähle ich dir jetzt aber nicht. Vielleicht möchtest du ihn dir ja auch irgendwann einmal ansehen.“
„Vielleicht“, entgegnete ich etwas verlegen.
Kurz darauf brach mein Nachbar auch schon wieder auf und ich lag ziemlich alleine und deprimiert in meinem Bett.
Etwas später betrat die Krankenschwester das Zimmer, um das Tablett wieder abzuholen.
„Oh, was für ein wunderschöner Blumenstrauß“, rief sie aus und fragte: „Soll ich ihn hier stehen lassen?“
Ich nickte.
„Hier ist ja noch ein Umschlag“, meinte sie und reichte ihn mir.
Als sie das Zimmer wieder verlassen hatte, öffnete ich ihn vorsichtig.
Darin lagen zwei Kinokarten.

© Martina Pfannenschmidt, 2017