Harry flog über die bunte Blumenwiese. Sein Magen
knurrte mächtig, denn er hatte noch nicht gefrühstückt.
„Mal sehen“, dachte der kleine Marienkäfer, „ob
hier kleine Blattläuse zu finden sind.“
Graziös landete er an einem dicken Grashalm. Flott
lief er an ihm herunter und ebenso flott wieder herauf. Keine einzige Laus war
zu sehen.
„Komm hier her, kleine rote Halbkugel“, rief
jemand.
Harry sah sich um. Dort hinten stand ein kleines
Gänseblümchen und winkte mit seinen Blättern.
„Komm hier her“, rief es wieder „an meinem Stängel
sitzen Blattläuse“.
Jetzt war dem Marienkäfer klar, dass er gemeint
war. Aber wie hatte das Blümchen ihn genannt? Kleine Halbkugel? Das war ja
geradezu eine Frechheit. Wie konnte die Blume es nur wagen, ihn, den
Glücksbringer der Menschen, eine Halbkugel zu nennen.
Er war sich nicht im Klaren darüber, wie er sich
nun verhalten sollte. Ignorieren wäre eine Möglichkeit. Doch die Aussicht auf
ein gutes Frühstück ließ ihn eine andere Entscheidung treffen. Er öffnete seine
Flügel und machte sich Richtung Gänseblümchen auf den Weg.
Sacht landete er auf dem Kopf der kleinen Blume.
„Ich bin so froh, dass du hier bist“, hörte er sie
sagen. „Die kleinen Biester sitzen schon so lange an meinem Stängel. Sie sind
wirklich lästig.“
„Ich könnte dir helfen, wenn ich wollte“,
schmollte Harry. „Doch ich weiß noch nicht, ob ich will.“
Beim Anblick der vielen Köstlichkeiten am Stängel
des Gänseblümchens lief dem kleinen Marienkäfer das Wasser im Mund zusammen und
sein Magen grummelte.
„Hast du denn gar keinen Appetit“, fragte ihn das
Blümchen.
„Ehrlich gesagt, hab ich sogar großen Hunger“,
antwortete Harry. „Aber du hast mich beleidigt.“
„Oh, entschuldige bitte, das wollte ich nicht“,
sagte das kleine Blümchen und wusste gar nicht so recht, was es falsch gemacht
haben sollte.
„Mein Name ist Harry“, stellte sich der rote Käfer
vor „und ich bin ein Marienkäfer. Wie dir mein Name bereits verrät, bin ich
nach Maria, der Mutter von Jesus, benannt, was dir zeigen sollte, dass ich
etwas Besonderes bin. Außerdem nennen mich die Menschen ‚Glücksbringer’“,
stellte Harry mit stolz geschwellter Brust fest.
„Oh, ich bin beeindruckt von deiner Schönheit und
deinem Namen“, schmeichelte ihm das Gänseblümchen. „Ich bin nur ein schlichtes
Gänseblümchen, was du an meiner gelben Blüte und dem weißen Blütenkranz gut
erkennen kannst und ich wäre dir unglaublich dankbar, wenn du mich von den
lästigen Läusen befreien könntest.“
Jetzt hielt Harry nichts mehr. Sein Hunger war
größer als seine Eitelkeit. Er machte sich auf den Weg zum Stängel und
verputzte jede einzelne Laus. Noch dicker und runder als vorher krabbelte er
gemächlich zurück auf das kleine Köpfchen der Blume.
„Oh, ich danke dir“, sagte das Gänseblümchen,
„magst du mir noch erzählen, weshalb die Menschen dich ‚Glücksbringer’
nennen?“, fragte es neugierig.
Harry fühlte sich geschmeichelt, weil das Blümchen
mit seiner Frage nun doch großes Interesse an ihm zeigte.
„Kannst du zählen?“, fragte der Käfer.
„Ja, kann ich“, antwortete das Blümchen, „ich kann
zählen – bis vier.“
„Nein, das reicht leider nicht“, sagte Harry. Du
müsstest schon bis sieben zählen können. Denn weißt du, ich habe sieben
schwarze Punkte auf meinem roten gepanzerten Rücken. Und die Zahl sieben ist
für die Menschen eine Glückszahl.“
„Eine Glückszahl?“, fragte das Blümchen. „Was ist
denn eine Glückszahl?“
„Meine Mama hat es mir so erklärt“, begann der
Käfer zu erzählen. „Bei den Menschen kommt sehr häufig die Zahl 7 vor. Sie
teilen eine Woche in 7 Tage ein. In ihren Märchen kommt die Zahl 7 oft vor. Zum
Beispiel bei ‚Schneewittchen und die 7 Zwerge’. Aber auch das ‚Tapfere
Schneiderlein’ erledigt ‚7 auf einen Streich’. Sie sprechen von
‚Siebenmeilenstiefeln’ und wenn sie verliebt sind, dann fühlen sie sich wie im
7. Himmel.
Den 27. Juni nennen sie den ‚Siebenschläfertag’,
denn eine Bauernregel besagt, dass es 7 Wochen lang nass bleibt, wenn es am
Siebenschläfertag regnet“.
Das Gänseblümchen war beeindruckt. „Das ist sehr
interessant, was du über die Menschen weißt. Meine Mama hat mir von den
Menschen nur erzählt, dass sie manchmal ganz achtlos uns Gänseblümchen den Kopf
abreißen und dann ein weißes Blättchen nach dem anderen aus unserer gelben
Blüte zupfen und dabei sagen: ‚Er liebt mich – er liebt mich nicht’.“
„Das ist ja eine kuriose Geschichte“, meinte
Harry.
„Ich werde jetzt weiter fliegen“, sagte Harry
„denn so langsam bekomme ich schon wieder Hunger. Mach es gut, kleines
Gänseblümchen. Vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder.“
„Tschüß, Harry“, rief das
Blümchen „und Dankeschön“.
© Martina
Pfannenschmidt, 2014