„Kannst
wieder heraus kommen“, flüsterte Pia. Nachdem sie die Stufe hatte knarren
hören, fügte sie an: „Die Luft ist wieder rein!“
Tante
Gertrud fand die Situation sehr amüsant. Nie hätte sie es für möglich gehalten,
dass sich für sie in der materiellen Welt noch einmal solche Szenen abspielen
würden.
„Du
wolltest mir noch erzählen, was knickern ist“, erinnerte Pia die Tante.
„Ja,
das wollte ich. Du kennst doch sicher bunte Glaskugeln und nennst sie Murmeln,
nicht wahr?“
Pia
nickte.
„Wir
sagten nicht Murmeln, sondern nannten die Kugeln Knicker. Und das Spiel hieß:
Knickern.“
„Ich
hab noch nie mit Murmeln gespielt. Was soll das überhaupt für ein Spiel sein?“,
fragte Pia und es klang ganz schön überheblich.
„Wenn
du dabei gewesen wärst, würdest du anders darüber denken“, erwiderte die Tante
daraufhin. „Es war ein schönes Spiel. Zuerst machte jemand mit dem Hacken
seiner Schuhe ein faustgroßes Loch in einen möglichst weichen Boden. Später bekamen
wir deshalb Ärger mit der Mutter, weil noch Erde am Schuh klebte oder auch, weil wir das gute Leder lädiert hatten. Die anderen Kinder stampften anschließend mit ihren
Schuhen die Erde um das entstandene Loch wieder fest. Vom Loch aus machten wir
ein paar Schritte und zogen dort – wieder mit den Schuhen – eine Linie. Hinter
der standen die Spieler. Gewonnen hatte derjenige, der zuerst all seine Knicker
in dem Loch versenkt hatte. Vorher hatten wir übrigens einen Preis für den
Sieger ausgemacht. Manchmal gewann man dabei die beste Murmel eines anderen
Spielers und das gab oftmals sogar Tränen.“
„Echt?“
Pia konnte es nicht glauben. Eine Murmel mehr oder weniger zu besitzen, war für
sie kein Drama.
„Das
musst du verstehen“, versuchte Tante Gertrud zu erklären, „wir waren stolz auf unseren
Besitz und wir wussten genau, dass wir so schnell keine neue Murmel bekamen.
Die einzige Möglichkeit, sie zurück zu erobern, bot eine Revanche. Und dabei
musste man halt das Glück haben, zu gewinnen. Der Druck war oft ganz schön
groß, denn die Knicker waren für uns wahre Schätze.“
„Heute
ist das irgendwie anders“, meinte Pia lapidar.
„Ja,
ich weiß! – Übrigens müssten noch ein paar meiner schönsten Knicker in dem Koffer
zu finden sein. Wenn du mal schauen magst.“
„Vielleicht
später.“
Wie
gut, dass Tante Gertrud inzwischen einen anderen Blick auf die Dinge hatte,
sonst wäre sie vielleicht enttäuscht gewesen. So nahm sie es schmunzelnd hin.
„Was
ist das denn da eigentlich für ein komisches Ding?“, wollte Pia wissen.
„Das
komische Ding ist ein Plattenspieler.“
„Und
was macht man damit?“
„Schau,
in dem Schrank dort drüben liegen noch Schallplatten. Die legt man auf den
Plattenspieler, setzt vorsichtig den Ton-Arm darauf und schon erklingen die
ersten Töne.“
Pia
nahm eine Schallplatte aus dem Schrank. ‚Schlager
des Jahres 1950’ stand darauf. Von den Liedern, die auf dem Cover standen,
hatte sie noch nie im Leben gehört: ‚Im Hafen von Adano’ und ‚Wenn das Wasser
im Rhein goldner Wein wär’.
„Vielleicht
funktioniert der Plattenspieler ja noch“. Tante Gertrud klang ein wenig
euphorisch. „Wollen wir es einmal ausprobieren?“
Nee,
lieber nicht, dachte Pia. Ich mag keine Schlager und die hier schon gar nicht.
Das
Kind hatte ganz vergessen, dass Tante Gertrud ihre Gedanken wahrnehmen konnte.
Hoffentlich war sie jetzt nicht beleidigt. Aber auch das registrierte die Tante
mit einem Lächeln.
„Nein,
mein Kind, ich bin nicht beleidigt. Alles verändert sich und das ist gut so.
Ich werde jetzt auch wieder gehen. Wer weiß, vielleicht treffen wir uns noch
einmal wieder. Mach es gut, Pia.“
Bevor
das Mädchen widersprechen konnte, war die Gestalt fort. Pia war selbst
überrascht, dass sie etwas traurig darüber war. Sie hätte die Tante noch so
viele Dinge fragen können. Sie hatte es vermasselt. Mit hängendem Kopf ging sie
die Treppe hinunter.
Ob
sie Mama und Papa von ihrer Begegnung mit Tante Gertrud erzählen sollte, oder
lieber nicht? Irgendwie hatte sie plötzlich das Gefühl, etwas erlebt zu haben,
was ihr niemand glauben würde. Auch Mama und Papa nicht. Ihr kamen Zweifel, ob sie
überhaupt jemals irgendjemandem diese brisante Geschichte mit Tante Gertrud
erzählen könnte. Würde sie für immer und alle Zeiten ein Geheimnis bei sich tragen müssen, weil die Geschichte dahinter
einfach zu unglaubwürdig war? Ob sie das aushalten konnte?
„Mensch
Pia, warum schaust du nur so traurig?“, wurde sie von Papa angesprochen. „Kann
ich etwas tun, um dich aufzuheitern?“
Als
er keine Antwort erhielt, meinte er: „Wir machen so schnell wir können, Pia.
Aber du siehst selbst. Es ist noch viel zu tun. Ein paar Tage werden wir noch
hier bleiben müssen. Geh doch mal raus auf die Straße, vielleicht siehst du ja
andere – Papa machte eine Pause, fast
hätte er ‚Kinder’ gesagt, doch gerade noch rechtzeitig besann er sich und sagte
stattdessen – Jugendliche, mit denen du die Zeit verbringen könntest. Du
bist doch nicht scheu und auf den Mund gefallen. Wer weiß, vielleicht findest
du hier sogar eine Freundin.“
„Und
was soll ich mit der anfangen, wenn wir nach ein paar Tagen wieder fahren?“
Da
hatte Pia auch wieder recht. Gerne hätte er seiner Tochter einen attraktiven
Urlaub gegönnt, aber in diesem Sommer war es nun mal so. Doch dann fiel ihm
etwas ein, das sie aufmuntern könnte: „Weißt du was, ich verspreche dir, dass
wir in den Herbstferien in den Süden fliegen. Das können wir uns nämlich
leisten, wenn der Käufer das Geld für das Haus überwiesen hat. Wie findest du
das? Das sind doch tolle Aussichten – oder nicht.“
Pia
nickte und trollte sich Richtung Garten. Papa sah ihr noch eine Weile hinterher.
Das Verhalten seiner Tochter ließ darauf schließen, dass sie mitten in der
Pubertät sein musste – und das mit gerade mal 12 Jahren!
In
der Nacht wurde Mama wach, weil Pia im Schlaf laut redete.
„Pia,
was ist los?“, fragte Mama und setzte sich auf die Bettkante.
Schlaftrunken
murmelte das Kind: “Tante Gertrud, sie ist hier. Auf dem Dachboden. Ich habe
sie gesehen.“
Mama
strich Pia beruhigend über den Kopf: „Du hast geträumt, meine kleine Pia. Tante
Gertrud kann nicht auf dem Dachboden sein. Sie lebt nicht mehr.“
Jetzt
wusste Pia ganz sicher, dass ihr niemals jemand ihre unglaubliche Geschichte abnehmen
würde.
©
Martina Pfannenschmidt, 2017