Julian
betrat schnellen Schrittes das Altenheim. Sein Chef hatte ihm den Auftrag
erteilt, hier einen Mann zu interviewen, der in ein paar Tagen seinen 100.
Geburtstag feiern würde.
Dem
Reporter schlug beim Betreten des Hauses ein ihm unbekannter Geruch entgegen
und er war froh, nur kurz hier zu tun zu haben. Er würde dieses Interview flott
hinter sich bringen, einen netten kleinen Artikel darüber schreiben und dies
alles schnell hinter sich lassen. Das Leben, das sich hinter diesen Mauern abspielte,
hatte so gar nichts mit seinem eigenen zu tun.
Beherzt
klopfte er an die Tür. Von drinnen kam ein leises „Herein!“ Schwungvoll betrat
er daraufhin das Zimmer. Sogleich fiel sein Blick auf den alten Mann mit
schlohweißen Haaren, der in einem roten Ohrensessel vor dem Fenster saß und die
Schneeflocken auf ihrem Weg zur Erde zu beobachten schien.
„Guten
Tag, Herr Schneider, mein Name ist Julian Specht. Ich bin hier, weil Sie in ein
paar Tagen ihren 100. Geburtstag feiern. Darf ich Ihnen dazu ein paar Fragen
stellen?“
Der
Alte zeigte auf einen weiteren Sessel, der sich in dem karg eingerichteten
Zimmer befand, und sprach mit leiser Stimme: „Nehmen Sie doch bitte Platz.“
Julian
bedankte sich, öffnete seine Mappe, um das Gespräch, das er führen wollte, in
Stichpunkten festzuhalten. Als er jedoch seine erste Frage stellen wollte, kam
ihm der Alte zuvor: „Sie möchten sicher wissen, was das Geheimnis eines
100jährigen ist, nicht wahr?“
„Ja,
durchaus!“
„Nun,
dann werde ich Ihnen ein wenig von mir und meinem Leben erzählen. Darf ich Sie zunächst
fragen, wie alt Sie sind?“
„27“,
antwortete Julian und schaute währenddessen auf die Uhr, so als würde die Zeit
dadurch schneller vergehen.
„27“,
wiederholte der alte Herr und ein Lächeln huschte dabei über sein faltiges
Gesicht. „In dem Alter hab ich noch versucht, vieles mit der Brechstange zu
erreichen. Meine To-Do-Liste, wie ihr jungen Leute wohl heute sagt, war lang. Wenn
ich etwas noch nicht erreicht hatte, so war mein Fazit daraus, dass ich wohl noch
mehr leisten muss, mich noch mehr anstrengen muss. Und so kam es, wie es kommen
musste: Ich fiel dabei oftmals auf die Nase. Im Nachhinein muss ich sagen, dass
diese schmerzlichen Erfahrungen wichtig für mich waren, weil ich dadurch erkannte,
dass man Dinge nicht erzwingen kann. Wissen Sie, junger Mann, manches braucht eben
seine Zeit und einige Dinge kommen gar nicht erst auf uns zu und so lehrte mich
das Leben, dass das, was kommen soll, auch kommen wird. - Wissen sie, wenn man
jung ist, rennt man oft irgendwelchen Wünschen hinterher und erkennt nicht,
dass das, was wir nicht bekommen, gar nicht für uns gedacht ist. Nachdem ich
dies jedoch erkannt hatte, wusste ich, dass ich gar nicht suchen muss, sondern
mich einfach finden lassen darf. Diese Einstellung gab mir Gelassenheit. Ich
konnte mich dadurch zurücklehnen und das Leben einfach geschehen lassen. Und
noch etwas fiel mir auf: Ich konnte zwar eine kurze Wegstrecke überschauen, meinen
gesamten Weg, den Fahrplan und die Endstation, die kenne ich allerdings nicht.“
An
dieser Stelle legte der Mann eine Pause ein. Offensichtlich strengte ihn das
Gespräch an, doch bald darauf fuhr er mit seiner weichen und sehr warmherzigen
Stimme fort: „Entschuldigen Sie! Ich rede unaufhörlich. Das ist unhöflich. Sie
haben sicher ein paar Fragen notiert, die Sie mir stellen möchten.“
Der
Reporter hatte die Worte sehr aufmerksam verfolgt. Ja, er hatte Fragen
vorbereitet, doch er ermunterte den alten Herrn, zunächst einfach fortzufahren.
„Ich
glaube“, meinte dieser daraufhin, „dass meine Frau nicht ganz unschuldig ist an
meinem Umdenken. Wissen Sie, sie war eine sehr liebenswerte und geduldige Person.“
Dabei zeigte er auf ein Foto, das auf einem kleinen runden Tisch neben ihm
stand. „Leider ist sie schon lange nicht mehr bei mir, weshalb ich hier dieses
Zimmer bezog. Sie war ein Mensch, der nicht nur anderen, sondern auch sich
selbst Fehler verzieh. Von ihr habe ich viel gelernt. Zum Beispiel, mit sich
und seinem Leben Frieden zu schließen. Das heißt nichts anderes, als dass wir das
annehmen, was wir sind und haben.“
Julian
musste sich eingestehen, dass er sich das Gespräch mit einem 100jährigen anders
vorgestellt hatte. Der alte Herr war zwar körperlich schwach, doch geistig
wirkte er frisch und alles, was er bisher gesagt hatte, zeugte davon, dass
nicht nur ein langes, sondern auch erkenntnisreiches Leben hinter ihm lag.
Still und mit aufrichtigem Interesse hörte Julian weiterhin zu.
„Wir
Menschen neigen leider dazu, uns mit anderen zu vergleichen. Ein wahrlich
sinnloses Unterfangen. Wir sind genau so, wie wir gedacht sind. Wir sind genug,
müssen nicht mehr sein und mehr haben. Wir dürfen uns erlauben, dass zu sein,
was wir sind. – Meine Frau und ich, wir haben ein einfaches aber glückliches
Leben geführt und wir hatten nie das Gefühl, mehr zu wollen. Es mag sein, das
andere den Eindruck von uns hatten, dass wir nichts aus unserem Leben gemacht
haben. Ja, es stimmt, wir haben weder die Weltmeere besegelt, noch etwas
unternommen, um tiefe Spuren zu hinterlassen. Vielleicht führten wir in den
Augen anderer ein eher langweiliges Leben. Wir waren jedoch zufrieden mit dem,
was wir hatten und wir haben unsere Aufgaben immer mit großer Sorgfalt erfüllt.
Wir waren mit uns und unserem Leben im Reinen.“ Der alte Mann sah Julian direkt
in die Augen, als er fragte: „Ist das nicht genug?“
Julian
nickte, obwohl er noch nicht sicher wusste, ob er wirklich allem zustimmen
konnte, was er gehört hatte. Doch eines war gewiss: Dieser Mensch würde, wenn
er eines Tages diese Welt verlassen durfte, in Frieden mit sich und der Welt
gehen.
©
Martina Pfannenschmidt, 2017