Freitag, 10. November 2017

Großtante Gertrud (1)

„Mensch, Pia, wenn jemand dein Gesicht sieht, könnte er denken, du hättest ein schlechtes Zeugnis bekommen.“
„Hab ich aber nicht“, maulte Pia ihre Mutter an.
„Ja, weiß ich doch. Ich weiß nur nicht, warum du schaust, wie 7 Tage Regenwetter?“
Darauf antwortete Pia nicht. Das konnte sich Mama ja wohl denken. Anstatt in den Urlaub, fuhren sie in dieses öde Kaff. Pia wollte sich nicht einmal den Namen dieses Ortes merken.
Vorhin auf dem Pausenhof war sie ständig gefragt worden: „Und, Pia, wohin fährst du in diesem Jahr in den Urlaub?“
Sie konnte einfach nicht die Wahrheit sagen. Das wäre ihr zu peinlich gewesen. Deshalb hatte sie behauptet, sie wollten ganz spontan entscheiden, wohin die Reise gehen solle. Dabei stand längst fest, dass sie das Haus von Mamas Großtante Gertrud ausräumen mussten. Mama hatte es ganz unerwartet geerbt und nun hatte sich ein Käufer dafür gefunden.
„Weißt du, ich habe so viele schöne Sommermonate bei meiner Großtante verbracht“, versuchte Mama, ihre Tochter aufzumuntern, „und ich bin ganz sicher, dass es auch dir dort gefallen wird.“
Pia warf ihrer Mutter einen viel sagenden Blick zu. Das würde niemals geschehen! Was sollte sie überhaupt machen in dieser Einöde, wo sie keinen Menschen kannte?
Einen Tag später standen sie vor dem kleinen Häuschen. Es war wirklich in die Jahre gekommen, doch es schien, als hätte der Käufer erkannt, dass sich hinter der maroden Fassade ein liebevolles Zuhause befand.
Papa öffnete die Haustür und Pia wich einen Schritt zurück.
„Hier bleibe ich nicht. Hier stinkt’s“, verkündete sie und stapfte Richtung Auto.
„Pia, bitte, komm zurück. Es riecht hier so eigenartig, weil lange nicht gelüftet wurde. Wir öffnen schnell alle Fenster und du wirst sehen, bald hat sich das Problem wie von selbst gelöst“, meinte Mama.
„Nee, ganz sicher nicht“, erwiderte Pia patzig, „es riecht nach alt und das lässt sich durch Lüften bestimmt nicht ändern.“
Mama und Papa wechselten einen Blick und gingen ohne einen weiteren Kommentar ins Haus. Bald darauf standen alle Fenster weit offen. Pia setzte sich derweil auf die Treppenstufen, die zum Haus führten. Es war einfach nicht zu fassen, dass sie jetzt hier herum saß und all ihre Freundinnen sich irgendwo in der Sonne aalten. Warum musste ausgerechnet ihre Mutter dieses blöde Haus erben? Vielleicht spukte es sogar darin! – Ein kalter Schauer lief ihr bei diesem Gedanken über den Rücken.
Bald darauf verspürte Pia Hunger. Doch zum Essen würde sie ins Haus gehen müssen und das wollte sie ja eigentlich nicht, doch gerade in dem Augenblick rief Mama: „Pia, es gibt Kartoffelsalat und Würstchen. Papa und ich, wir essen jetzt. Wenn du auch Hunger hast, müsstest du herein kommen.“
Pia schlich in die Küche und ließ ihren Blick schweifen. Wie das hier aussah! Alles war uralt und richtig schäbig. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass die alte Tante und auch ihre Mutter es hier schön fanden. Sie fand einfach alles grauenhaft. Doch irgendwie begriff sie, dass aller Widerstand nichts nutzte. Für ein paar Tage saß sie hier fest.
Da es keine Spülmaschine gab, musste Pia nach dem Essen sogar das Geschirr abtrocknen. Es fühlte sich wirklich so an, als sei in diesem Haus die Zeit stehen geblieben.
Bald darauf begannen Mama und Papa mit den ersten Aufräumarbeiten. Das Kind entschied, das Haus einmal genauer in Augenschein zu nehmen. Irgendwann gelangte Pia über eine schmale und knarrende Holztreppe in den Bodenraum. Duster war es hier und stickig. Sie zog einen alten Hocker unter das kleine Dachfenster, um es öffnen zu können. Anschließend sah sie sich in dem staubigen Raum um. Was hier alles herumstand! Unfassbar! Einige Dinge kannte sie überhaupt nicht. Es würde bestimmt Wochen dauern, bis ihre Eltern das alles entsorgt hätten.
Vorsichtig öffnete Pia den Deckel eines alten Koffers. Einige vergilbte Spiele und eine Puppe kamen darin zum Vorschein. Die Puppe trug ein braunes Kleid mit einer hellen Schürze. Als Pia sie aus dem Koffer nahm, öffneten sich ihre Augen. Das Mädchen fragte sich in diesem Moment, wie lange die Puppe wohl schon hier oben gelegen haben mochte.
„Es werden wohl bald 70 Jahre sein“, sagte daraufhin eine Stimme. Pia drehte sich abrupt um und erschrak. Sie erkannte es nicht deutlich, doch sie nahm eine helle Gestalt wahr, bei der es sich um eine alte Frau handeln musste.
„Entschuldige bitte, wenn ich dich erschreckt habe“, meinte die alte Dame. „Du musst Pia sein, die Tochter meiner Großnichte. Ich habe dich als ganz kleines Mädchen einmal gesehen. Außerdem hat mir deine Mutter in jedem Jahr zum Weihnachtsfest geschrieben und ein Foto von dir beigelegt. Daher kenne ich dich. Aber du kannst dich gewiss nicht mehr an mich erinnern. Ich bin Tante Gertrud.“
Pia hatte es gewusst: Hier spukt es! Starr vor Schreck war sie weder in der Lage, zu schreien, noch, sich zu bewegen und diesen Raum zu verlassen.
„Es ist bestimmt komisch für dich, mich hier zu sehen. Weißt du, Pia, ich wollte gerne noch eine Weile in diesem Haus sein, bevor es der Käufer umbaut und es sich verändert. Ich dachte, hier auf dem Dachboden wird mich niemand finden. Das war, wie es scheint, wohl dumm von mir. Kinder sehen halt Dinge, die Erwachsene nicht mehr wahrnehmen können.“
Pia war immer noch nicht in der Lage, zu reagieren. Aber ganz so schaurig fand sie die Situation jetzt nicht mehr. Außerdem wurde die Gestalt immer deutlicher für Pia, je länger sie hinschaute.
„Das ist Marie“, sagte die Tante und zeigte auf die Puppe, die Pia noch immer in ihren Händen trug. „Ich habe sie so sehr geliebt. Du musst wissen, dass wir früher nicht so viele Spielsachen hatten, wie ihr heute. Nach dem Krieg hatten die Menschen wenig Geld. Aber wir Kinder hatten viel Fantasie und fanden immer etwas, was und womit wir spielen konnten. Weißt du, was ‚knickern’ bedeutet?“, fragte die Tante. Das Mädchen schüttelte mit dem Kopf.
„Pia, wo bist du?“, rief Mama in diesem Augenblick und eine Treppenstufe knarrte. 
„Wenn du möchtest, erzähle ich dir später mehr davon“, flüsterte Tante Gertrud noch schnell, bevor sie in einer dunklen Ecke verschwand.
 „Was machst du denn hier oben?“, fragte Mama, als sie den Raum betrat.
„Ich? Ich hab diese Puppe hier gefunden“, antwortete Pia schnell und hielt sie ihrer Mutter entgegen. Mit glühenden Wangen füge sie hinzu: „Sie hat bestimmt deiner Tante Gertrud gehört.“
„Ja, ganz sicher sogar“, entgegnete Mama. „Weißt du was, die nehmen wir mit nach Hause, als Erinnerung an meine Tante.“
Mama sah sich um und seufzte. Es gab wirklich noch viel zu tun. „Kommst du wieder mit runter?“, wollte sie von Pia wissen.
„Nee, ich bleib noch ein bisschen hier oben und schau mich weiter um. Irgendwie find ich es doch ziemlich cool hier.“
Mama grinste. Schade, dass sie nicht sehen konnte, dass auch über Tante Gertruds Gesicht ein Lächeln huschte.


© Martina Pfannenschmidt, 2017