Hanne
saß am Fenster ihres Zimmers. Sie konnte von hier aus das Treiben im
Eingangsbereich des Altenheimes beobachten. Das war das einzig Spannende in
ihrem Leben, seit sie vor ein paar Wochen hier eingezogen war. Sie konnte sich
noch gar nicht damit abfinden, dass sie nun hier war. Wie gerne wäre sie in
ihren eigenen 4 Wänden geblieben, doch sie musste sich eingestehen, dass sie
ihren Alltag alleine nicht mehr meistern konnte.
Leise
klopfte jemand an ihre Tür.
„Herein“,
rief Hanne und wischte heimlich eine Träne fort. Es war Henriette. Sie wohnte
im Zimmer nebenan und sie war eine wirklich liebenswerte Person. Die einzige,
mit der Hanne bisher ein bisschen Kontakt hatte.
„Ich
wollte dich nur erinnern“, sagte Henriette fürsorglich, „es gibt jetzt
Mittagessen.“
Hanne
sah auf die Uhr. Sie konnte sich einfach noch nicht daran gewöhnen, so früh zu
Mittag zu essen. Zuhause hatte sie frühestens um halb zwei gegessen. Hier stand
das Essen um Punkt 12 Uhr auf dem Tisch.
Hanne
erhob sich. „Danke, Henriette, ich hätte es wohl wieder vergessen.“ Sie griff
nach ihrem Rollator und die beiden gingen in Richtung Fahrstuhl, um in den
Essenssaal zu gelangen.
„Früher“,
erzählte Hanne, „habe ich immer die Treppe genommen. Ich bin nie mit einem
Fahrstuhl gefahren oder sehr selten. So habe ich mich fit gehalten. Aber heute
wollen die alten Knochen nicht mehr.“
Henriette
nickte zustimmend.
Die
beiden Frauen setzten sich zu zwei anderen Bewohnerinnen an den Tisch. Das
Essen wurde aufgetragen und bald darauf löffelten alle stumm ihre Suppe. Hanne
hatte einen dicken Kloß im Hals. Es schmeckte einfach nicht wie zu Hause. Aber
sie wollte nicht jammern. Das passte einfach gar nicht zu ihr und sie ärgerte
sich über sich selbst, weil sie in den letzten Wochen so ein Jammerlappen geworden
war. Aber in ein Altenheim zu ziehen war so, als würde man in eine Wartehalle
geschoben, um auf seinen Tod zu warten.
Später
saß sie wieder am Fenster ihres Zimmers und blickte nach draußen. Sie dachte an
ihren Mann, der vor ein paar Jahren verstorben war. Er hatte es jetzt leichter
als sie. Er hatte dieses Leben schon hinter sich gebracht. Sie schüttelte mit
dem Kopf. „Sag mal, Hanne, bist du noch bei Trost?“, fragte sie sich selbst. Es
geht doch nicht darum, das Leben hinter sich zu bringen. Wie hatte eine weise
Frau einmal gesagt? ‚Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern
den Tagen mehr Leben.’ Genau so war es!
Hanne
ging ein Gespräch durch den Kopf, das sie vor ein paar Tagen unverfreiwillig
belauscht hatte. Zwei Frauen am Nachbartisch hatten sich nach dem Essen darüber
unterhalten, dass sie nun einen Mittagsschlaf halten wollten. „So geht der Tag
schneller um“, hatte die eine zur anderen gesagt. Das war ganz traurig und
zeugte davon, wie lebensmüde diese Frauen sein mussten. Möglichst schnell den
Tag hinter sich bringen und dann? Der nächste Tag würde auch keine Freude
bringen und der übernächste auch nicht. Sie aßen, schliefen und warteten anscheinend
auf den Tod. Das war einfach nur schrecklich und hatte mit einem sinnvoll
geführten Leben so gar nichts zu tun. Auch wenn man im Alter nicht mehr so
aktiv sein konnte, so konnte man doch Freude am Leben empfinden.
Hanne
schloss die Augen: „Ach Fritz, was soll ich denn bloß machen?“, fragte sie in
die Stille des Raumes hinein.
Nach
einer Weile wurde ihr ganz warm zumute. Es war ihr, als wäre ihr Fritz bei ihr
und würde ihr über den Kopf streichen und sie fragen: „Ist das die Hanne, wie
ich sie kenne? Was ist denn mit dir los? Wo ist deine Lebensfreude geblieben?“
Ihre
Lebensfreude? In der Tat, die war irgendwo auf der Strecke geblieben. Sie hatte
sie wohl in ihrer Wohnung zurück gelassen und gar nicht mit hierher gebracht.
Das war nicht gut. Sie brauchte ihre Lebensfreude zurück!
Hanne
erhob sich, griff erneut nach ihrem Rollator und ging zielstrebig über den
Flur, bis sie Marion gefunden hatte, die Leiterin des Hauses.
„Wissen
Sie“, begann Hanne, „die Menschen hier benötigen dringend ein bisschen
Aufmunterung.“
„Da
haben Sie sicher recht“, erwiderte Marion, „doch wissen Sie, uns bleibt so
wenig Zeit neben aller Arbeit ...“
Hanne
winkte ab und ließ sie gar nicht ausreden. „Ich weiß, ich weiß und es wird ja
auch schon einiges angeboten. Doch ich denke, da ist noch mehr möglich. Wenn
ich darf, würde ich das gerne in die Hand nehmen. Ich kenne so viele Menschen,
die ein ganz besonderes Talent besitzen. Wenn es Ihnen recht wäre, könnte ich
fragen, ob jemand bereit wäre, hier den einen oder anderen Nachmittag zu
gestalten. In jedem Fall müssen wir auch mal Kinder zu uns einladen. Die haben
die Lebensfreude noch in sich. Das wirkt auf ältere Menschen bestimmt
ansteckend.“ Hanne war voller Ideen und spürte vor Elan. Erwartungsvoll sah sie
Marion an.
„Machen
Sie nur. Es ist in unserem Sinn, wenn sich die Bewohner hier wohl und wirklich
zuhause fühlen“, entgegnete die Leiterin und freute sich über so viel Engagement.
Hocherhobenen
Hauptes ging Hanne zurück in ihr Zimmer. Sie würde ein paar Telefonate führen
und zwar sofort.
Abrupt
blieb sie stehen und drehte sich um. Hatte da jemand mit ihr gesprochen? Sie
hätte geschworen, dass sie gehört hatte: „Da ist sie ja wieder, meine Hanne!“
©
Martina Pfannenschmidt, 2015