Umsichtig
befuhr Nina die alte Landstraße. Inzwischen war es dunkel geworden und es hatte
zu regnen begonnen. Eigentlich brauchte sie ihre ganze Konzentration zum
Autofahren, doch sie konnte nicht verhindern, dass der blöde Streit mit ihrer
Mutter ihr nachging.
Es
war nicht das erste Mal, dass die beiden Frauen aneinander geraten waren. Immer
wieder mischte sich ihre Mutter in ihr Leben ein und immer wieder ärgerte sie sich darüber. Heute war
Ninas bevorstehender Geburtstag der Grund für einen Streit gewesen. Ihre Mutter
war der Auffassung, sie müsse ihn in einem großen Rahmen feiern, mit Hans und
Franz und Onkel und Tante. Nina war daraufhin explodiert: „Ich werde 30 Mama
und kann meine Entscheidungen alleine treffen!“ Und dann hatte sie ihr klar
gemacht, dass sie kein großes Brimborium
um diesen Tag machen möchte.
Anschließend
hatte ihre Mutter ihre größte Waffe eingesetzt und Sätze wie diese waren
gefallen: „Ich meine es doch nur gut mit dir“ und „Niemand ist mir so wichtig, wie du“ und „Du musst mir versprechen, dass du den Tag nicht
irgendwo alleine verbringst.“
Aber
eigentlich würde sie das am liebsten tun. Einfach verreisen und ihren
Geburtstag irgendwo auf der Welt in einem Liegestuhl mit einem Buch in der Hand
verbringen. Doch wenn ihre Mutter ihr Ziel erführe, wäre die Gefahr groß, dass
sie ihr nachreisen oder zumindest das Hotel aufmerksam machen würde. Nina hörte
im Geiste schon alle anderen Gästen im Frühstückssaal ‚Happy birthday’ singen.
Natürlich
ahnte sie, dass ihre Mutter enttäuscht war von ihr und ihrem Leben. Ihre Mama
wünschte sich einen Schwiegersohn und Enkelkinder. Aber das Leben lief nun mal
nicht für jeden nach dem gleichen Plan und Muster ab. Bisher waren all ihre
Beziehungen nach kurzer Zeit gescheitert. – Klar, auch das lag in den Augen
ihrer Mutter an ihr. Vielleicht stimmte es sogar.
Es
war ja nicht so, dass sie gerne alleine war. Aber was sollte sie machen, wenn
der richtige Partner nicht in Sicht war?
Wild
um sich schlagend wachte Nina am nächsten Morgen auf. Ihr Geburtstag hatte sie
bis in ihren Traum hinein verfolgt. Sie war ganz alleine auf dem Meer getrieben
in einem Boot, das nicht größer war, als eine Nussschale. Sie hatte sich einsam
und allein gefühlt und war sehr durstig gewesen. Plötzlich war am Himmel ein
riesiges Flugzeug aufgetaucht und Menschen waren an Fallschirmen direkt auf sie
zu gesprungen. Alle hielten Geschenkpäckchen in Händen. Sie hatte ihre Mutter erkannt,
doch deren Fallschirm wollte sich nicht öffnen.
Es
war ein schrecklicher Traum gewesen und Nina war noch völlig verwirrt. Hilfe
suchend schaute sie auf den Wecker. War es Zeit, aufzustehen? Doch dann wurde
ihr klar, dass Sonntag war. Während dieser Tag für die meisten Menschen der
schönste der Woche war, fand sie ihn einfach nur schrecklich. Die meisten ihrer
Freundinnen hatten an diesem Tag keine Zeit, weil sie irgendwelchen
Pärchenaktiviäten nachgingen, irgendwo gemeinsam zum Brunch einkehrten, einen
Spaziergang um den See machten oder sich irgendwelche Liebesbekundungen ins Ohr
flüsterten.
Ihr
Sonntag sah hingegen anders aus. Sie verließ ungern das Haus, verbrachte den
Tag damit, sich eine Gesichtsmaske zu machen und mit einer Kuscheldecke auf dem
Sofa Filme anzuschauen. So würde
wohl auch dieser Sonntag für sie aussehen.
Mit
einer Packung Papiertaschentücher neben sich und eingekuschelt in ihre
Lieblingsdecke saß sie am Nachmittag vor dem Fernseher. Zum xten Mal sah sie
sich eine Liebesschnulze an und obwohl sie wusste, dass die beiden Hauptdarsteller
später ein Liebespaar wurden, weinte sie an manchen Stellen Rotz und Wasser.
Zwar war sie ungeschminkt, doch die Tränen hinterließen kuriose Spuren auf
ihrer grünen Gesichtsmaske. Das war Nina aber egal. Es sah sie ja niemand.
Unerwartet
klingelte es jedoch an der Wohnungstür. Wer könnte das sein am
Sonntagnachmittag? Bestimmt stand ihre Mutter vor der Tür und sah genau so
tränenüberströmt aus, wie sie. Das könnte sie jetzt einfach nicht ertragen.
Vielleicht sollte sie gar nicht öffnen. Doch ihr wurde klar, dass man ihren
Fernseher auf dem Hausflur hören konnte. Während Nina noch darüber nachsann,
wie sie sich verhalten sollte, pochte jemand an die Tür und eine ihr bekannte
Stimme rief: „Nina, mach auf. Ich hör doch, dass du zuhause bist. Ich bins,
Karoline.“
Gott
sei Dank. Nicht ihre Mutter. Es war eine Kollegin, mit der Nina gut befreundet
war und die sie auch in diesem Aufzug sehen durfte. Behände sprang sie vom Sofa
und lief auf dicken Socken und in ihrer verschlissenen Jogginghose über den
Flur Richtung Tür, die sie sogleich schwungvoll öffnete.
Im
selben Moment wäre sie am liebsten im Erdboden versunken, denn vor ihr stand
nicht nur ihre Kollegin, sondern auch ein junger Mann.
„Oh“, stotterte Karoline, „ich wusste ja nicht,
dass du … ich wollte dir eigentlich nur …“.
Und dann war es der junge Mann, der diese diffuse
Situation rettete: „Karoline wollte mich dir vorstellen. Ich darf doch Du
sagen, oder? Also, wenn ich ehrlich bin, mache ich es mir am Sonntag auch am
liebsten zuhause bequem. Wir können doch einen Moment in deinem Wohnzimmer
warten, während du dich … herrichtest“, flachste er und hielt Nina seine Hand
hin. „Mensch, bin ich unhöflich. Ich bin Timo.“
„Ich weiß“, stotterte Nina, „Timo Hühnerbein.“
Nun war es an Timo, dumm aus der Wäsche zu
schauen.
An ihrem 30. Geburtstag saß sie nicht alleine am
Tisch eines Restaurants, sondern mit Timo, dem Mann, den sie aus dem
Kindergarten kannte. Sie waren damals unzertrennlich gewesen, doch dass Leben
hatte sie bereits als Kinder auseinander gerissen. Nie zuvor war Nina so klar
wie an diesem Tag, dass sie in all den Jahren immer nur auf ihn gewartet hatte.
© Martina Pfannenschmidt, 2017