Freitag, 10. November 2017

Die Fremde (2)

Sandra fuhr noch ein paar Stationen weiter. Es war schon eigenartig, dass sie sich derart beschwingt fühlte. Sie wusste, dass es etwas mit dem Gespräch zu tun hatte, das sie im Bus mit der älteren Dame geführt hatte. Erklären konnte sie sich das nicht.
Noch ein paar Gehminuten, dann hatte sie ihren Kindergarten erreicht. Gerade in dem Moment, als sie die Holzpforte öffnen wollte, um den kleinen Weg zur Eingangstür zu betreten, trat ein Mann aus dem Kindergarten heraus. Abrupt blieb Sandra stehen. Das konnte doch nicht wahr sein! Noch nie war sie mit Lucas Vater zusammen getroffen. Das war schon ein witziger Zufall. Ob sie ihn einfach ansprechen sollte? Aber was sollte sie sagen? „Ach, guten Morgen! Das ist ja nett, dass wir uns hier treffen. Ihre Mutter hat mich gerade eben zu einem gemeinsamen Ausflug in den Zoo eingeladen“. Oder wie sollte sie jetzt reagieren? Gar nichts sagen? Manno, das war eine verzwickte Situation. Noch verzwickter fand sie allerdings die Tatsache, dass sich beim Anblick dieses Mannes irgendetwas in ihrem Inneren tat. Sandra konnte es nicht beschwören, doch das Gefühl kam ihr irgendwie bekannt vor. Was war nur mit ihr los?
„Entschuldigung, würden Sie mich bitte vorbei lassen?“
Oh mein Gott, war das peinlich. Sandra stand mitten in der Pforte und versperrte Lucas Vater den Weg. Sie merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Schnell murmelte auch sie „Entschuldigung“ und ging rasch weiter. Großartig! Das war ja wirklich ganz großartig gelaufen. Aber was hatte sie denn geglaubt? Dass sich eine Liebe zwischen ihr und diesem Mann anbahnen würde?
Schlagartig war Sandras gute Laune gegen Null. Blödsinn! Derartige Liebesgeschichten ereigneten sich nicht im wahren Leben. Wenn überhaupt, dann nur in irgendwelchen schlechten Geschichten.
Brummig saß Sandra am folgenden Tag im Bus. Gleich würde Lucas Oma zusteigen. Hoffentlich setzte sie sich nicht wieder neben sie. – Doch genau so kam es. „Guten Morgen, Sandra!“, wurde sie freundlich begrüßt. „Ach, wie ich mich freue, dass ich Sie gestern angesprochen habe, nur vorgestellt habe ich mich noch gar nicht. Ich bin Ingelore.“ Schon hielt sie Sandra ihre Hand hin. „Wollen wir vielleicht ‚Du’ sagen?“
Manno! Schon wieder so eine Situation, die Sandra überforderte. Zuhause war sie noch sicher gewesen, dass sie diesen Ausflug mit der ihr unbekannten Familie wieder absagen wollte, doch jetzt, wo die nette Frau neben ihr saß, verließ sie der Mut. Ingelore war wirklich sehr freundlich und ihre Augen strahlten, als sie Sandra ansah. Sie mochte ihr das einfach nicht antun – und eigentlich freute sie sich ja auch auf diesen Ausflug. Deshalb nahm sie die ihr angebotene Hand an und nickte.
„Ich habe gestern noch mit Luca und meinem Sohn telefoniert“, schwadronierte Ingelore los. „Sie freuen sich sehr über unser unerwartetes Zusammentreffen und besonders über deine Zusage. Luca war sofort Feuer und Flamme. Er kennt dich ja schon aus dem Kindergarten und wird dich heute sicher ansprechen.“
Sandra schwieg, obwohl sie zu gerne gewusst hätte, wie denn Ingelores Sohn auf ihre Zusage reagiert hatte. Es dauerte jedoch nicht lange, da bekam sie die Antwort auf ihre nicht gestellte Frage wie auf einem Silbertablett serviert: „Mein Sohn, er heißt übrigens Heiko, freut sich auch. Er meinte, wenn du magst, könnten wir vielleicht gleich früh morgens los fahren. Auf dem Weg zum Zoo liegt die Burg Abendfels, zu der wir einen Abstecher machen könnten. Von dort hat man übrigens einen wunderbaren Blick über das Land.“
Sandra war hin und her gerissen. Gerade hatte sie die Fahrt noch absagen wollen, jetzt schmiedete sie bereits weitere Pläne.
„Ich kenne die Burg“, erwiderte sie. „Ich liebe die Aussicht, die man von dort hat. Wir haben früher oft ein Picknick auf der Wiese unterhalb der Burg gemacht.“
„Das ist eine grandiose Idee. Ich werde einen Picknickkorb für uns alle herrichten und wir werden auf einer Decke direkt auf der grünen Wiese unser Frühstück einnehmen.“
Ingelore sah Sandra tief in die Augen. „Ach Kindchen, ich weiß gar nicht, wann ich mich das letzte Mal so auf etwas gefreut habe.“
Sandra erging es ähnlich.
Ein Jahr später!
„Heiko, kommst du bitte mal?!“
„Was gibt es denn?“, erkundigte er sich und trat direkt hinter Sandra.
„Sag mal, dieses Zimmer hier, nutzt ihr das eigentlich noch als Gästezimmer?“
„Ja und nein. Ursprünglich war es für meine Mutter gedacht, doch die möchte abends lieber wieder nach Hause gebracht werden, wenn sie uns besucht. Sie schläft in ihrem eigenen Bett halt besser. Weshalb fragst du?“
„Was hältst du davon, wenn wir den Raum etwas anders einrichten? Die Kommode könnte doch gut im Flur stehen, dann hätten wir ein bisschen mehr Platz in diesem Raum!“
„Und wofür brauchen wir den?“, erkundigte er sich.
Sandra drehte sich um und flüsterte ihm ins Ohr: „Für das neue Leben, das in meinem Bauch wächst.“

© Martina Pfannenschmidt, 2017