Sandra
fuhr noch ein paar Stationen weiter. Es war schon eigenartig, dass sie sich
derart beschwingt fühlte. Sie wusste, dass es etwas mit dem Gespräch zu tun
hatte, das sie im Bus mit der älteren Dame geführt hatte. Erklären konnte sie
sich das nicht.
Noch
ein paar Gehminuten, dann hatte sie ihren Kindergarten erreicht. Gerade in dem
Moment, als sie die Holzpforte öffnen wollte, um den kleinen Weg zur
Eingangstür zu betreten, trat ein Mann aus dem Kindergarten heraus. Abrupt
blieb Sandra stehen. Das konnte doch nicht wahr sein! Noch nie war sie mit
Lucas Vater zusammen getroffen. Das war schon ein witziger Zufall. Ob sie ihn einfach ansprechen sollte? Aber was
sollte sie sagen? „Ach, guten Morgen! Das ist ja nett, dass wir uns hier
treffen. Ihre Mutter hat mich gerade eben zu einem gemeinsamen Ausflug in den
Zoo eingeladen“. Oder wie sollte sie jetzt reagieren? Gar nichts sagen? Manno,
das war eine verzwickte Situation. Noch verzwickter fand sie allerdings die
Tatsache, dass sich beim Anblick dieses Mannes irgendetwas in ihrem Inneren
tat. Sandra konnte es nicht beschwören, doch das Gefühl kam ihr irgendwie
bekannt vor. Was war nur mit ihr los?
„Entschuldigung,
würden Sie mich bitte vorbei lassen?“
Oh
mein Gott, war das peinlich. Sandra stand mitten in der Pforte und versperrte
Lucas Vater den Weg. Sie merkte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Schnell
murmelte auch sie „Entschuldigung“ und ging rasch weiter. Großartig! Das war ja
wirklich ganz großartig gelaufen. Aber was hatte sie denn geglaubt? Dass sich
eine Liebe zwischen ihr und diesem Mann anbahnen würde?
Schlagartig
war Sandras gute Laune gegen Null. Blödsinn! Derartige Liebesgeschichten
ereigneten sich nicht im wahren Leben. Wenn überhaupt, dann nur in
irgendwelchen schlechten Geschichten.
Brummig
saß Sandra am folgenden Tag im Bus. Gleich würde Lucas Oma zusteigen.
Hoffentlich setzte sie sich nicht wieder neben sie. – Doch genau so kam es.
„Guten Morgen, Sandra!“, wurde sie freundlich begrüßt. „Ach, wie ich mich
freue, dass ich Sie gestern angesprochen habe, nur vorgestellt habe ich mich
noch gar nicht. Ich bin Ingelore.“ Schon hielt sie Sandra ihre Hand hin. „Wollen
wir vielleicht ‚Du’ sagen?“
Manno!
Schon wieder so eine Situation, die Sandra überforderte. Zuhause war sie noch
sicher gewesen, dass sie diesen Ausflug mit der ihr unbekannten Familie wieder absagen
wollte, doch jetzt, wo die nette Frau neben ihr saß, verließ sie der Mut.
Ingelore war wirklich sehr freundlich und ihre Augen strahlten, als sie Sandra
ansah. Sie mochte ihr das einfach nicht antun – und eigentlich freute sie sich ja
auch auf diesen Ausflug. Deshalb nahm sie die ihr angebotene Hand an und
nickte.
„Ich
habe gestern noch mit Luca und meinem Sohn telefoniert“, schwadronierte
Ingelore los. „Sie freuen sich sehr über unser unerwartetes Zusammentreffen und
besonders über deine Zusage. Luca war sofort Feuer und Flamme. Er kennt dich ja
schon aus dem Kindergarten und wird dich heute sicher ansprechen.“
Sandra
schwieg, obwohl sie zu gerne gewusst hätte, wie denn Ingelores Sohn auf ihre
Zusage reagiert hatte. Es dauerte jedoch nicht lange, da bekam sie die Antwort
auf ihre nicht gestellte Frage wie auf einem Silbertablett serviert: „Mein Sohn,
er heißt übrigens Heiko, freut sich auch. Er meinte, wenn du magst, könnten wir
vielleicht gleich früh morgens los fahren. Auf dem Weg zum Zoo liegt die Burg
Abendfels, zu der wir einen Abstecher machen könnten. Von dort hat man übrigens
einen wunderbaren Blick über das Land.“
Sandra
war hin und her gerissen. Gerade hatte sie die Fahrt noch absagen wollen, jetzt
schmiedete sie bereits weitere Pläne.
„Ich
kenne die Burg“, erwiderte sie. „Ich liebe die Aussicht, die man von dort hat. Wir haben früher oft ein Picknick auf
der Wiese unterhalb der Burg gemacht.“
„Das
ist eine grandiose Idee. Ich werde einen Picknickkorb für uns alle herrichten
und wir werden auf einer Decke direkt auf der grünen Wiese unser Frühstück einnehmen.“
Ingelore
sah Sandra tief in die Augen. „Ach Kindchen, ich weiß gar nicht, wann ich mich
das letzte Mal so auf etwas gefreut habe.“
Sandra
erging es ähnlich.
Ein
Jahr später!
„Heiko,
kommst du bitte mal?!“
„Was
gibt es denn?“, erkundigte er sich und trat direkt hinter Sandra.
„Sag
mal, dieses Zimmer hier, nutzt ihr das eigentlich noch als Gästezimmer?“
„Ja
und nein. Ursprünglich war es für meine Mutter gedacht, doch die möchte abends
lieber wieder nach Hause gebracht werden, wenn sie uns besucht. Sie schläft in
ihrem eigenen Bett halt besser. Weshalb fragst du?“
„Was
hältst du davon, wenn wir den Raum etwas anders einrichten? Die Kommode könnte
doch gut im Flur stehen, dann hätten wir ein bisschen mehr Platz in diesem Raum!“
„Und
wofür brauchen wir den?“, erkundigte er sich.
Sandra
drehte sich um und flüsterte ihm ins
Ohr: „Für das neue Leben, das in meinem Bauch wächst.“
©
Martina Pfannenschmidt, 2017