Freitag, 10. November 2017

Die Fremde (1)

Sandra saß im Bus und war auf dem Weg zu ihrem Arbeitsplatz, einem Kindergarten, der sich etwas außerhalb der Stadt befand. Diese Zeit am Morgen nutzte sie oft, um sich in Tagträumen zu verlieren, oder sich das Leben einiger Mitfahrenden vorzustellen. Meistens erschien ihr dieses viel interessanter und spannender zu sein, als ihr eigenes. Vielleicht verlief es aber auch ganz anders, als sie sich das in ihren Tagträumen so ausmalte. Aber das war ihr egal. Sandra machte es Freude, sich diesen Gedanken hinzugeben.
Die nächste Busstation befand sich direkt neben dem Wasserhäuschen und Sandra wusste, dass dort wie an jedem anderen Morgen auch eine ältere Dame zusteigen würde. Sie schätzte ihr Alter auf gut 70, daher würde sie sich wohl kaum auf dem Weg zu ihrer Arbeit befinden. Aber wohin fuhr sie dann an jedem Tag, den der Herrgott gab?
Diesmal wollte es der Zufall, dass die Dame direkt neben Sandra Platz nahm. „Guten Morgen“, grüßte sie freundlich und suchte sogleich das Gespräch: „Ist das nicht ein herrlicher Morgen? Sie sind gewiss auf dem Weg zu ihrer Arbeit.“ Sandra nickte. „Ach wissen Sie“, fuhr die Dame fort, „ich bin schon lange Rentnerin. Mein Geld kommt monatlich auf mein Konto, ohne dass ich etwas dafür tun muss. Auch wenn es nicht viel ist, so habe ich doch mein Auskommen. Es ist halt nur …“. Weiter sprach sie nicht. Stattdessen senkte sie den Kopf. Sandra war unsicher, ob sie nachhaken sollte. Schließlich kannte sie die Frau gar nicht. Sie war ja eigentlich eine Fremde für sie – und doch! Vielleicht war es auch Sandras Neugierde, die sie fragen ließ: „Was bedrückt Sie denn?“
Die Dame schaute hoch. „Interessiert Sie das wirklich?“
Wieder nickte Sandra.
„Ach wissen Sie, ich fühle mich oft so einsam und auch hilflos. Mein Mann ist schwer erkrankt, müssen Sie wissen. Wir konnten nicht mehr zusammen leben. Er leidet an Demenz, erkennt mich oft gar nicht mehr. Immerzu war er auf der Suche nach mir, obwohl ich direkt neben ihm stand. Er meinte, ich sei eine fremde Frau und wollte mich aus unserer eigenen Wohnung vertreiben. Das war eine schlimme Zeit. Mein Sohn hat dann dafür gesorgt, dass sein Vater in ein Heim kam, in dem er wirklich gut betreut wird. Jetzt fahre ich an jedem Morgen zu ihm, bleibe bis zum Mittagessen bei ihm und fahre anschließend wieder nach Hause. Die Nachmittage und Abende sind oft lang. Wissen Sie, ich wohne noch in unserer alten Wohnung, obwohl mein Sohn meint, ich solle doch zu ihm ins Haus ziehen. Das möchte ich aber nicht. Ich wäre doch gar keine Hilfe für ihn, ganz im Gegenteil.“
Sandra wunderte sich über ihre eigene Frage: „Lebt ihr Sohn allein oder hat er eine Familie?“
Wieder sah die Dame Sandra an. „Er hat seine Frau verloren. Vor zwei Jahren ist sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Jetzt lebt er mit seinem Sohn, meinem Enkel, allein in dem Haus. Wissen sie, mir fehlt einfach die Kraft, die beiden auch noch zu unterstützen.“
An dieser Stelle schwiegen beide Frauen und hingen ihren Gedanken nach. Sandra schämte sich ein wenig dafür, dass sie sich das Leben anderer immer als perfekt ausmalte. Das war es wohl für niemanden. Wenn man hinter die Fassaden der Menschen blickt, stellt man oft fest, dass es bei jedem Sorgen und Probleme gibt – aber natürlich gibt es ebenso viele glückliche Momente.
„Und Sie?“, erkundigte sich die Dame, „haben Sie Familie?“
„Ja, ich hab schon eine Familie, nur leider keine eigene. Meine Eltern leben ganz in meiner Nähe. Meine Schwester ist verheiratet, hat einen Mann und zwei süße Kinder. Ich gehe ganz in meiner Rolle als Tante auf. Aber wenn ich ehrlich sein soll, hätte ich schon gern irgendwann eigene Kinder. Wissen Sie, jetzt zum Osterfest treffen wir uns alle bei meinen Eltern. Dann werden wir grillen und meine Mutter wird uns leckere Salate servieren. Wir werden kleine Geschenke und Eier für die Kinder verstecken. Eigentlich ist alles perfekt und doch …“.
„Ich verstehe“, erwiderte die Dame, „das Leben geht manchmal eigene Wege, doch sie dürfen die Hoffnung auf eine eigene Familie niemals aufgeben. Es ist das größte Glück, eigene Kinder zu haben.“
Dann kramte die Frau in ihrer Handtasche: „Schauen Sie, dass ist mein Enkel.“ Sandra sah interessiert auf das Foto. Ein kleiner Junge mit einer roten Zipfelmütze strahlte ihr entgegen. „Aber den kenne ich doch“, rief Sandra aus, „das ist doch Luca.“
„Ja, so heißt er. Aber woher … ?“
„Er besucht den Kindergarten, in dem ich tätig bin. Er ist zwar nicht in meiner Gruppe, dennoch kenne ich seinen Namen - und ihren Sohn, den kenne ich auch vom Sehen. Er bringt den Jungen morgens und holt ihn nachmittags auch wieder ab. Natürlich hab ich damals von dem tragischen Unfall erfahren. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass sie die Mutter und Oma sind.“
„Wissen Sie, ich bin sicher, dass unser Zusammentreffen eine Bedeutung hat. Das Schicksal nimmt manchmal eigenartige Wege. Vielleicht können wir ja mal etwas zusammen unternehmen? Wollen Sie nicht am Ostermontag mit uns in den Zoo kommen? Ach bitte, es wäre eine große Freude, auch für meinen Sohn und meinen Enkel. Oder haben Sie an dem Tag schon etwas anderes vor? Entschuldigen Sie bitte, ich bin einfach viel zu forsch. Aber das ist so meine Art. Sie können es sich ja noch einmal überlegen und es mir morgen sagen. Sie fahren doch morgen wieder mit diesem Bus?“
Eigentlich war Sandra kein spontaner Mensch, doch in diesem Moment wurde ihr ganz warm ums Herz und sie wusste, dass sie dieses Angebot annehmen musste.
„Ich heiße übrigens Sandra“, rief sie der älteren Dame hinterher, als diese aufstand und Richtung Ausgang ging, „und ich komme sehr gerne mit.“
Freudestrahlend und winkend stieg die ältere Dame aus. Sandra kannte nicht einmal ihren Namen, doch sie spürte, dass sich ihr Leben durch diese Frau verändern würde.

© Martina Pfannenschmidt, 2017