Sonntag, 10. Dezember 2017

Graufellchen (5) - 1 Minute für den Frieden

Graufellchen war gerade dabei, seine morgendliche Runde durch die Wohnung zu drehen, als die Schlafzimmertür geöffnet wurde. Schnell flitzte er an der Fußleiste entlang und schon war er in seiner sicheren Höhle verschwunden.
Mit nur einem Auge schaute er nach den beiden Menschen. Er musste schon ein bisschen kichern, als er sie so zerzaust und schlaftrunken sah. Als die beiden aber eine kleine Weile später in der Küche das Frühstück zubereiteten, sahen sie aus wie immer und noch etwas war wie immer: Sie unterhielten sich!
„Du glaubst nicht“, meinte Karl, „was ich heute Nacht geträumt habe.“
„Ist dir das Christkind erschienen?“, frotzelte Gerda.
„Nein, das nicht, aber ähnlich schön. Stell dir vor, ich saß vor dem Fernseher und schaute Nachrichten und weißt du, was dort verkündet wurde? War is over! – Stell dir das doch bitte mal für einen Moment vor: Ein Nachrichtensprecher, der verkündet, dass es keinen Krieg mehr gibt. Weltweit! – Ich sah Menschen, die sich in die Arme fielen, in etwa so wie damals, als die innerdeutsche Grenze fiel. Es war so unfassbar schön, doch leider war es nur ein Traum und wird es vielleicht für lange Zeit bleiben.“
„Sag das nicht, Karl! Auch wenn es so scheint, dürfen wir uns gedanklich nicht an den Krieg klammern, sondern wir sollten uns mit dem Frieden beschäftigen.“
„Wie unachtsam von mir! Du hast natürlich recht. Ich möchte meine Gedanken und meine Energie ja Richtung Frieden lenken und nicht Richtung Krieg. Also sollte ich auch dem Frieden meine ganze Aufmerksamkeit schenken.“
„So ist es, Karl! Es gibt so viele Menschen, die für sich und die Welt den Frieden wünschen, doch sie halten sich für zu unbedeutend und glauben nicht, dass sie etwas für den Frieden tun können.“
Karl nickte zustimmend: „Ja, so geht es sicher vielen, Gerda. Doch was passiert, wenn das jeder denkt und gar nichts tut? Es wird alles so bleiben, wie es ist.“
„Vielleicht fehlt uns einfach der feste Glaube, es tatsächlich schaffen zu können. Solange wir nicht aus tiefstem Herzen davon überzeugt sind, dass es der Menschheit in naher oder ferner Zukunft gelingen wird, Hunger, Armut und Krieg in dieser Welt zu beenden, wird es auch keine Lösung geben. Und wenn niemand etwas tut, ja dann tut sich auch nichts.“
„Aber mal ehrlich, Gerda, was können wir zwei denn an unserem Platz und in unserem fortgeschrittenen Alter für den Frieden tun?“
„Höre ich da so etwas wie Resignation heraus?“
„Vielleicht!“
„Vor gar nicht so langer Zeit las ich etwas, dass sich genau mit diesem Thema beschäftigt. Und zwar ging es darum, dass weltweit immer mal wieder eine Schweigeminute für Verstorbene eingelegt wird. Wie wäre es denn, wenn jeder, der guten Willens ist, täglich eine Schweigeminute für den Weltfrieden einlegen würde? Natürlich muss dieser Mensch diesen Frieden zunächst ganz tief in sich selbst empfinden und dann in die Welt hinaus schicken. Stell dir das nur einmal vor, Karl, wenn das wirklich jeder gutmütige Mensch auf dieser Welt machen würde. Dann würde sich etwas verändern, denkst du nicht?“
„Einen Versuch wäre es auf jeden Fall wert. Der Einsatz ist gering und wenn wir damit die Welt einen Hauch besser machen können, dann sollten wir uns daran beteiligen. Jeden Tag 1 Minute!“
„Das machen wir, Karl. Wir erinnern uns gegenseitig und wer weiß, vielleicht ist das wie ein kleines Samenkorn, das wir in die Erde legen. Möge es wachsen und gedeihen und Frieden bringen, gerade jetzt in der Weihnachtszeit wünschen wir uns alle doch nichts mehr, als das.“
„Besonders für die Kinder dieser Welt, nicht wahr!“
„Ja, ganz besonders für die Kinder, Karl. Wenn wir möchten, dass die Welt ein friedvollerer Ort wird, müssen wir etwas tun. Jeder an seinem Platz.“
„Das stimmt, meine Liebe, und Sätze wie: ‚Das hat doch alles keinen Sinn’, bringen die Menschheit auf keinen Fall voran.“
„Genau! Das Handeln jedes Einzelnen hat eine Auswirkung für alle und wenn auf der einen Seite Hass, Neid, Habgier, Verachtung und Missgunst gesät werden, müssen auf der anderen Seite Liebe und Verständnis in die Waagschale geworfen werden. Sozusagen als Ausgleich und Gegengewicht. Und da kommt es wirklich auf jeden Einzelnen an. Das glaube ich ganz sicher.“
„Lass uns unseren kleinen Beitrag leisten – und das nicht nur jetzt zur Weihnachtszeit. Mehr können wir wohl leider nicht tun!“
„Nein“, ergänzte Gerda, „mehr können wir wohl nicht tun, aber durchaus weniger!“

© Martina Pfannenschmidt, 2017