In diesem Winter hatte es wieder einmal ordentlich geschneit. Die
Kinder waren alle aus dem Häuschen – und das war durchaus wörtlich zu nehmen.
Niemanden hielt es bei diesem herrlichen Wetter im Haus. Gegen die Kälte konnte
man sich ja mit warmer Kleidung wappnen. Amelie lief durch den Garten. Soooo
lange hatte sie nicht mehr im Schnee herumtollen können. Die Kufen ihres Schlittens
waren schon ganz verrostet, die musste Papa zunächst einmal einfetten, damit sie
den Hang herunter sausen konnte.
Nach der Schneeballschlacht, die sie sich mit ihrer Mutter
geliefert hatte, fragte diese: „Wollen wir einen Schneemann bauen?“
Das Mädchen war begeistert. „Oh ja, aber ich baue meinen eigenen!“
Dann begannen sie, den Schnee zu Kugeln zu formen. Mamas Kugeln
waren größer, als die von Amelie und ließen sich auch schwerer rollen. Amelies
Schneemann wurde kleiner, aber wunderschön. Er bekam den Kinderbesen in den Arm
gelegt, eine lila Pudelmütze auf den Kopf, damit ihm nicht zu kalt wurde und
eine Möhrennase.
„Du Mama, der Schneemann kann ja noch gar nicht gucken. Er braucht
unbedingt noch zwei Augen.“
„Das stimmt, meine Süße! Früher, als ich klein war, haben wir
immer zwei schwarze Kohlestückchen genommen, aber heute heizen wir ja nicht
mehr damit. Lass mich überlegen, was wir stattdessen nehmen können?“
Während Mama noch darüber sinnierte, kam Amelie bereits eine Idee.
„Ich weiß, was wir nehmen können“, rief sie nur, rannte zur Küchentür,
durch die man vom Garten ins Haus gelangte, zog vorher schnell ihre Stiefel aus
und verschwand im Inneren des Hauses.
„Schau“, rief das Kind bald darauf, „wir nehmen Knete. Hilfst du
mir, damit sie weicher wird und wir sie formen können?“ Mama nahm die grüne und
die blaue Knete in jeweils eine Hand. Aus der roten Knete formte Amelie Lippen,
denn die brauchte er ja auch, wie sollte er denn sonst sprechen können.
„Sooo einen bunten Schneemann habe ich noch nie gesehen“, kicherte Mama. Er sah mit seinen
unterschiedlichen Augenfarben wirklich witzig auf. Amelie gefiel er so, wie er
war. Inzwischen war sie jedoch so durchgefroren, dass sie lieber im Haus weiter
spielen wollte. Als sie sich vom Schneemann verabschiedete, versprach sie, am
kommenden Tag nach ihm zu schauen.
Die Nacht brach herein, Amelie lag in ihrem Bett und schlief. Der
Schneemann jedoch war viel zu aufgeregt, um so früh schon zu schlafen. Er
schaute staunend in den Himmel. So viele Sterne und der große helle Mond.
Fantastisch sah das aus.
Früh am nächsten Morgen begrüßte Amelie ihn freundlich:
„Hallo, Schneemann!“
„Hallo, Amelie“, antwortete dieser. Das Kind staunte, denn es
hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Schneemann wirklich sprechen konnte.
„Nun schau nicht so. Du hast mir doch einen Mund gemacht, damit
ich sprechen kann und Augen zum Schauen. Ich danke dir, denn so konnte ich heute
Nacht die Sterne betrachten und auch den Mond!“
Amelie, die sich von dem Schreck schnell erholt hatte, verstand
seine Gefühle sehr gut: „Sie sind wunderschön, nicht wahr. Ich habe sie auch
schon oft gesehen und frage mich dann immer, ob dort oben wohl jemand wohnt.“
„Du Amelie“, sagte der Schneemann zögerlich, „ich hatte heute
Nacht einen Traum. Du hast mich auf
deinen Schlitten gesetzt und dann sind wir zwei zusammen den Hang herunter gerast. Das war ein Heidenspaß. Würdest
du mich heute mitnehmen zum Schlitten fahren.“
Eine ungewöhnliche Bitte, die Amelie allerdings gerne erfüllte.
Vorsichtig setzte sie den Schneemann auf den Schlitten, erzählte Mama von ihrem
Vorhaben und zog mit ihm los. Die anderen Kinder schauten neidisch auf die zwei,
denn noch nie zuvor hatte ein Kind einen sprechenden Schneemann auf einem
Schlitten gesehen.
So vergingen einige Tage, an denen die beiden viel Spaß
miteinander hatten. Doch eines Morgens, als Amelie nach ihrem Schneemann schauen
wollte, stand er nicht mehr dort. Sofort stiegen Tränen in ihre Augen. Irgendjemand
musste ihren Schneemann gestohlen haben.
Amelies Mutter, die ihr Kind hatte weinen hören, kam in den Garten, um ihre Tochter zu trösten.
„Schau, Amelie, es ist in den letzten Tagen viel wärmer geworden. Sieh
meinen dicken Schneemann an, von ihm ist auch kaum noch etwas übrig geblieben.
Sei nicht traurig. So ist das Leben der Schneemänner. Sobald es wärmer wird,
verlassen sie uns.“
„Ich finde das total blöd“, motzte Amelie.
„Aber so ist es nun einmal. Finde dich damit ab.“
Das Telefon klingelte und Mama lief zurück ins Haus. „Amelie“,
rief Mama eine kurze Zeit später, „Papa war das gerade am Telefon mit einer
tollen Nachricht. Komm her, ich habe eine Überraschung für dich.“
Dann gingen beide hinunter in den Keller.
Mama öffnete die Gefriertruhe. „Schau“, sagte sie nur.
Das Mädchen konnte es nicht fassen. Ihr Papa hatte den kleinen
Schneemann gerettet, indem er ihn dort
hinein gelegt hatte.
Amelie ging jeden Tag zu ihm, um mit ihm zu sprechen, doch lange
war das nicht möglich, denn sonst wäre er ja geschmolzen. Als es Mai und
draußen immer wärmer wurde, hatte der Schneemann nur noch einen Wunsch:
„Amelie, kannst du mich bitte nach draußen in den Garten bringen?“
„Nein“, antwortete sie erschreckt, „das geht nicht. Du würdest
sterben.“
„Schau, dass ist das Schicksal aller Schneemänner. Wir gehören
nicht ins Frühjahr und auch nicht in den Sommer oder in den Herbst. Uns gibt es
nur im Winter, wenn es richtig kalt ist. Dann fühlen wir uns am wohlsten. Ich
bin so einsam hier unten und es ist ständig dunkel um mich herum. Das ist kein
schönes Leben.“
Amelie bekam ein schlechtes Gewissen. Es war sehr eigennützig von
ihr, den Schneemann bei sich behalten zu wollen.
„Es ist nicht so vorgesehen, dass wir im Frühjahr noch da sind. Bitte
gib mir die Freiheit und lass mich hier heraus. Im nächsten Winter, wenn es
wieder schneit, dann kannst du mich doch wieder zum Leben erwecken.“
Amelie nickte, brachte den Schneemann in den Garten und stellte
ihn in das Blumenbeet. Dort schien die Sonne am stärksten. Der Schneemann
freute sich, winkte Amelie ein letztes Mal aufmunternd zu und verschwand.
Amelies Mutter beobachtete die Szene vom Küchenfenster aus. Das
Kind nahm die grüne, blaue und rote Knete an sich und ging zur Mutter in die
Küche.
„Ich habe gesehen, dass du dich vom Schneemann verabschiedet
hast“, sagte sie.
„Es war so sein Wunsch“, erwiderte Amelie traurig.
Es ist jetzt schwer für sie, dachte ihre Mutter, doch es ist eine
wichtige Erkenntnis für mein Kind, dass alles seine Zeit hat!
© Martina Pfannenschmidt, 2015