Freitag, 10. November 2017

Alles hat seine Zeit!

In diesem Winter hatte es wieder einmal ordentlich geschneit. Die Kinder waren alle aus dem Häuschen – und das war durchaus wörtlich zu nehmen. Niemanden hielt es bei diesem herrlichen Wetter im Haus. Gegen die Kälte konnte man sich ja mit warmer Kleidung wappnen. Amelie lief durch den Garten. Soooo lange hatte sie nicht mehr im Schnee herumtollen können. Die Kufen ihres Schlittens waren schon ganz verrostet, die musste Papa zunächst einmal einfetten, damit sie den Hang herunter sausen konnte.
Nach der Schneeballschlacht, die sie sich mit ihrer Mutter geliefert hatte, fragte diese: „Wollen wir einen Schneemann bauen?“
Das Mädchen war begeistert. „Oh ja, aber ich baue meinen eigenen!“
Dann begannen sie, den Schnee zu Kugeln zu formen. Mamas Kugeln waren größer, als die von Amelie und ließen sich auch schwerer rollen. Amelies Schneemann wurde kleiner, aber wunderschön. Er bekam den Kinderbesen in den Arm gelegt, eine lila Pudelmütze auf den Kopf, damit ihm nicht zu kalt wurde und eine Möhrennase.
„Du Mama, der Schneemann kann ja noch gar nicht gucken. Er braucht unbedingt noch zwei Augen.“
„Das stimmt, meine Süße! Früher, als ich klein war, haben wir immer zwei schwarze Kohlestückchen genommen, aber heute heizen wir ja nicht mehr damit. Lass mich überlegen, was wir stattdessen nehmen können?“
Während Mama noch darüber sinnierte, kam Amelie bereits eine Idee.
„Ich weiß, was wir nehmen können“, rief sie nur, rannte zur Küchentür, durch die man vom Garten ins Haus gelangte, zog vorher schnell ihre Stiefel aus und verschwand im Inneren des Hauses.
„Schau“, rief das Kind bald darauf, „wir nehmen Knete. Hilfst du mir, damit sie weicher wird und wir sie formen können?“ Mama nahm die grüne und die blaue Knete in jeweils eine Hand. Aus der roten Knete formte Amelie Lippen, denn die brauchte er ja auch, wie sollte er denn sonst sprechen können.
„Sooo einen bunten Schneemann habe ich noch nie gesehen“, kicherte Mama. Er sah mit seinen unterschiedlichen Augenfarben wirklich witzig auf. Amelie gefiel er so, wie er war. Inzwischen war sie jedoch so durchgefroren, dass sie lieber im Haus weiter spielen wollte. Als sie sich vom Schneemann verabschiedete, versprach sie, am kommenden Tag nach ihm zu schauen.
Die Nacht brach herein, Amelie lag in ihrem Bett und schlief. Der Schneemann jedoch war viel zu aufgeregt, um so früh schon zu schlafen. Er schaute staunend in den Himmel. So viele Sterne und der große helle Mond. Fantastisch sah das aus.
Früh am nächsten Morgen begrüßte Amelie ihn freundlich:
„Hallo, Schneemann!“
„Hallo, Amelie“, antwortete dieser. Das Kind staunte, denn es hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Schneemann wirklich sprechen konnte.
„Nun schau nicht so. Du hast mir doch einen Mund gemacht, damit ich sprechen kann und Augen zum Schauen. Ich danke dir, denn so konnte ich heute Nacht die Sterne betrachten und auch den Mond!“
Amelie, die sich von dem Schreck schnell erholt hatte, verstand seine Gefühle sehr gut: „Sie sind wunderschön, nicht wahr. Ich habe sie auch schon oft gesehen und frage mich dann immer, ob dort oben wohl jemand wohnt.“
„Du Amelie“, sagte der Schneemann zögerlich, „ich hatte heute Nacht einen Traum. Du hast mich auf deinen Schlitten gesetzt und dann sind wir zwei zusammen den Hang herunter gerast. Das war ein Heidenspaß. Würdest du mich heute mitnehmen zum Schlitten fahren.“
Eine ungewöhnliche Bitte, die Amelie allerdings gerne erfüllte. Vorsichtig setzte sie den Schneemann auf den Schlitten, erzählte Mama von ihrem Vorhaben und zog mit ihm los. Die anderen Kinder schauten neidisch auf die zwei, denn noch nie zuvor hatte ein Kind einen sprechenden Schneemann auf einem Schlitten gesehen.
So vergingen einige Tage, an denen die beiden viel Spaß miteinander hatten. Doch eines Morgens, als Amelie nach ihrem Schneemann schauen wollte, stand er nicht mehr dort. Sofort stiegen Tränen in ihre Augen. Irgendjemand musste ihren Schneemann gestohlen haben.
Amelies Mutter, die ihr Kind hatte weinen hören, kam in den Garten, um ihre Tochter zu trösten.
„Schau, Amelie, es ist in den letzten Tagen viel wärmer geworden. Sieh meinen dicken Schneemann an, von ihm ist auch kaum noch etwas übrig geblieben. Sei nicht traurig. So ist das Leben der Schneemänner. Sobald es wärmer wird, verlassen sie uns.“
„Ich finde das total blöd“, motzte Amelie.
„Aber so ist es nun einmal. Finde dich damit ab.“
Das Telefon klingelte und Mama lief zurück ins Haus. „Amelie“, rief Mama eine kurze Zeit später, „Papa war das gerade am Telefon mit einer tollen Nachricht. Komm her, ich habe eine Überraschung für dich.“
Dann gingen beide hinunter in den Keller.
Mama öffnete die Gefriertruhe. „Schau“, sagte sie nur.
Das Mädchen konnte es nicht fassen. Ihr Papa hatte den kleinen Schneemann  gerettet, indem er ihn dort hinein gelegt hatte.
Amelie ging jeden Tag zu ihm, um mit ihm zu sprechen, doch lange war das nicht möglich, denn sonst wäre er ja geschmolzen. Als es Mai und draußen immer wärmer wurde, hatte der Schneemann nur noch einen Wunsch: „Amelie, kannst du mich bitte nach draußen in den Garten bringen?“
„Nein“, antwortete sie erschreckt, „das geht nicht. Du würdest sterben.“
„Schau, dass ist das Schicksal aller Schneemänner. Wir gehören nicht ins Frühjahr und auch nicht in den Sommer oder in den Herbst. Uns gibt es nur im Winter, wenn es richtig kalt ist. Dann fühlen wir uns am wohlsten. Ich bin so einsam hier unten und es ist ständig dunkel um mich herum. Das ist kein schönes Leben.“
Amelie bekam ein schlechtes Gewissen. Es war sehr eigennützig von ihr, den Schneemann bei sich behalten zu wollen.
„Es ist nicht so vorgesehen, dass wir im Frühjahr noch da sind. Bitte gib mir die Freiheit und lass mich hier heraus. Im nächsten Winter, wenn es wieder schneit, dann kannst du mich doch wieder zum Leben erwecken.“
Amelie nickte, brachte den Schneemann in den Garten und stellte ihn in das Blumenbeet. Dort schien die Sonne am stärksten. Der Schneemann freute sich, winkte Amelie ein letztes Mal aufmunternd zu und verschwand.
Amelies Mutter beobachtete die Szene vom Küchenfenster aus. Das Kind nahm die grüne, blaue und rote Knete an sich und ging zur Mutter in die Küche.
„Ich habe gesehen, dass du dich vom Schneemann verabschiedet hast“, sagte sie.
„Es war so sein Wunsch“, erwiderte Amelie traurig.
Es ist jetzt schwer für sie, dachte ihre Mutter, doch es ist eine wichtige Erkenntnis für mein Kind, dass alles seine Zeit hat!


© Martina Pfannenschmidt, 2015