Freitag, 10. November 2017

Das letzte Hemd hat keine Taschen

Als sie den Schlüssel in das Schloss steckte, war Susanne ganz elend zumute. Das erste Mal nach dem plötzlichen Tod ihrer Mutter öffnete sie diese Tür. Unweigerlich traten Tränen in ihre Augen. Sie hatte sich nicht einmal von ihr verabschieden können. Als sie das letzte Mal von ihr fort ging, hätte sie im Traum nicht daran gedacht, dass sie sie lebend nicht wieder sehen würde.
Die Tür sprang auf und Susanne betrat den kleinen Flur. Die Jacke ihrer Mutter hing noch an der Garderobe, so, als habe sie diese gerade eben dort hingehängt. Sie nahm den Ärmel und schnupperte daran. „Ach, Mama, warum bist du nicht mehr da? Hast dich einfach so davon geschlichen“, murmelte sie in die Stille hinein.
Anschließend betrat sie die kleine Küche. Alles war pikobello aufgeräumt. Ihre Mutter war stets sehr ordentlich gewesen. Hier und da stand ein wenig Schnickschnack herum, doch alles hatte seinen Platz.
Susanne öffnete einen Küchenschrank. Das ganze Geschirr, was sollte jetzt damit passieren? Sie hatte selbst genug. Mehr als genug sogar. Und Detlef, ihr Bruder, der würde auch nichts davon gebrauchen können. - Ihr Bruder, sie grollte mit ihm ein wenig, denn wie so oft glänzte er auch jetzt durch Abwesenheit.
Sie hatten sich eigentlich verabredet, um den Nachlass ihrer Mutter zu regeln, doch plötzlich gab es da einen Termin mit einem Klienten, den er angeblich nicht absagen konnte und so stand Susanne ganz alleine hier. Auf der anderen Seite konnte sie so ihren Gedanken nachhängen und ihrer Mutter in der Stille ganz nahe sein.
Sie hatten viel über den Tod und das Leben gesprochen. Ihre Mutter hatte keine Angst von dem Tod gehabt und Susanne klangen noch die Worte ihrer Mama im Ohr: „Ach Kind, warum soll ich mich fürchten? Ich gehe einfach durch eine Tür in einen anderen, mir noch unbekannten Raum. Wie oft habe ich das schon gemacht. Immer wieder gab es Türen, von denen ich nicht wusste, was mich dahinter erwartet.“
Wie es wohl war, diese Tür zu durchschreiten? Und was erwartete uns auf der anderen Seite dieser Tür?
Ihre Mutter zweifelte nicht daran, dass ihre Ahnen dort auf sie warteten und natürlich ihr Mann, Susannes und Detlefs Vater. „Schau“, hatte ihre Mutter gesagt, „wenn ein Baby geboren wird, sind ganz viele Menschen da, um es zu empfangen. Es sind Menschen da, die helfen, dass das Kind geboren werden kann. Und die Familie ist da, die dem Menschenkind hilft, sich in dieser Welt zurecht zu finden. Das Kind wäre gar nicht lebensfähig ohne diese anderen liebenden Personen, die sich um das kleine Wesen kümmern. Warum sollte sich das plötzlich nach dem Tod ändern? Auch auf der anderen Seite wird es wieder Seelen geben, die uns helfen, uns zu recht zu finden. Vielleicht hat die Seele auf der anderen Seite genau so viel Angst, geboren zu werden, wie sie es hier hat, zu sterben. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass alles gut geregelt ist.“
Susanne betrat das Schlafzimmer. Die Nachbarin hatte ihre Mutter dort eines Morgens tot aufgefunden. Das war ein Schock für alle gewesen.
Susanne öffnete den Kleiderschrank. Alles lag oder hing dort ordentlich sortiert. Sie wusste, dass ihre Mutter ihr Herz nicht an weltliche Dinge gehängt hatte. Das machte es jetzt leichter, die Sachen zu entsorgen.
„Wir können nichts von dem, was wir hier an materiellen Dingen angehäuft haben, mitnehmen“, pflegte ihre Mutter zu sagen. „Du weißt doch, wie man sagt: Das letzte Hemd hat keine Taschen.“
Susannes Blick fiel auf eine bunt gemusterte Bluse. Als ihre Mutter diese das letzte Mal getragen hatte, hatte sie gemeint, sie sei nun wohl bald zu alt dafür. Aber schon bald darauf hatte sie sich selbst widersprochen und gemeint: „Blödsinn! Was schert mich, was andere Leute darüber denken. Ich mag diese Bluse.“
Auf der Kommode standen mehrere Fotos. Das eine zeigte Susannes Eltern als Brautpaar am Tag ihrer Hochzeit. Es gab auch ein Bild aus der Zeit, als sie vier und Detlef zwei Jahre alt waren. Natürlich gab es auch ein Foto, auf dem Bello, der Hund der Familie, zu sehen war. Sie hatte eine wirklich schöne Kindheit gehabt und war ihren Eltern dankbar für alles, was sie ihr an Werten mitgegeben hatten.
Jetzt gab es nur noch ihren Bruder und seine Familie und plötzlich war da kein Groll mehr gegen ihn, sondern ganz viel Liebe. Sie wusste, dass er ihr sehr nahe stand.
Erschrocken wandte sie sich um, als es an der Haustür schellte. Als sie die Tür öffnete, lächelte sie. Davor stand Detlef, ihr Bruder.
„Da bin ich, Schwesterherz“, sagte er und nahm sie in die Arme.
Es war so schön, einen Bruder zu haben!


© Martina Pfannenschmidt, 2015